Die fünf Birken am Dorfausgang zittern im kalten Wind. Ihre weißen Stämme säumen eine schmale Straße, die durch eine Winterlandschaft aus menschenleeren Feldern führt. Im Nebel zeichnen sich in der Ferne die Mauern des neuen Friedhofs ab. Weiter vorne, auf dem Hügel, strecken sich drei schlichte Holzkreuze in den fahlen Himmel. Fast berühren sich ihre weißen Querbalken wie die Arme einer Menschengruppe. Die nüchternen Symbole sind in einem nackten Betonsockel verankert.
Auf dem Kalvarienberg in Hebertshausen rücken räumliche Bezüge in den Blick. Zusammenhänge zwischen der Kreuzesgruppe, dem Friedhof und der nahe gelegenen Kirche werden deutlich. Zwischen diesen Orten öffnet sich ein dramaturgischer Raum, der durch die Architektur inszeniert wird. Die weiß verputzte Georgskirche ist der zentraler Dreh- und Angelpunkt in diesem Gefüge. Ihr hoher Turm setzt sich vom Langhaus ab. Unter den roten Ziegeln des Satteldachs wölben sich drei romanische Fenster – ein Staffelfries am Kirchturm greift die Rund- bogenform auf. Um die Kirche herum drängen sich Grabsteine dicht aneinander, bis zur Mauer, die um die Kirche verläuft. Im klaren Innenraum öffnet sich ein hoher Raum auf einen spätgotischen Chor mit Netzgewölbe. Der Putz bröckelt von den Wänden. Licht strömt durch die Fenster. Neben dem Altar steht auf einem Postament der Chorwand die Holzfigur des heiligen Georg. Stolz hält der Soldat in Ritterrüstung seinen Spieß in der Hand. Ihm zu Füßen windet sich ein Ungeheuer – ein Sinnbild für das besiegte Böse in der Welt.
Vor der Kirche schweift der Blick den Steilhang hinunter, über die Häuser von Hebertshausen und weiter bis zum Horizont. Stolz überblickt der Kirchenbau das Dorf – als ob er die Gemeinde beobachten würde. Wer danach sucht, der kann Bezugsachsen ausmachen: Gleich unterhalb liegt das neu errichtete Gemeindezentrum. Einfamilienhäuser, Garagen und Vorgärten reihen sich in den Dorfstraßen aneinander und ducken sich im Blickfeld der Kirche. Im Südwesten fällt eine abrupte Kante auf. Hier bricht die Häuserreihe ab. Hinter den Hausgärten mit Trampolins und Kinderschaukeln öffnet sich eine unbebaute Fläche. Es ist der ehemalige SS-Schießplatz Hebertshausen – hier ermordeten die Nationalsozialisten 4.000 Soldaten der sowjetischen Armee. Die verborgene und die alltägliche Geschichte des Dorfes liegen dicht nebeneinander. Von oben überschaut die Georgskirche beides – die Gegenwart und die Vergangenheit. Sie ist Teil der Geschichte von Hebertshausen. Wie eine Kompassnadel gibt ihr weißer Turm die Orientierung an und rückt die Erinnerung in das Bewusstsein der Gegenwart. Architektur kann beide Ebenen fügen, die Vergangenheit und das Präsens. Es kommt darauf an, dass sie den richtigen Zugang findet und die Ebenen als solche sichtbar macht.
Herausgeber: Heim Kuntscher Architekten und Stadtplaner BDA
Fotos: Friederike von Rauch
Texte: Sandra Hofmeister
Gestaltung: strobo M Friedrich J von Klier