Architektur als politische Vision: Die Utopien der 1960er- und 70er-Jahre
Das Canadian Centre for Architecture (CCA) zeigt, wie aktuell die radikalen Architektur-Utopien der 60er- und 70er-Jahre sind.
Happenings, temporäre Installationen und neue Medien: Mit Protestaktionen und radikalen Gedanken zur Zukunft der Architektur traten die radikalen Utopisten der 60er- und 70er-Jahre in Florenz an die Öffentlichkeit. Ihre Visionen sind auch heute noch in vielerlei Hinsicht lebendig.
„Uns ging es um Ideen, wir wollten keine Häuser bauen“ sagt Gianni Pettena bei der Ausstellungseröffnung in Montreal. Der Florentiner Architekt ist einer der Kuratoren der Ausstellung „Utopie Radicali: Florence 1966-1976“, die das Canadian Centre for Architecture (CCE) derzeit zeigt. Vor rund 50 Jahren war Pettena einer der jungen Protagonisten, die sich in Florenz an der Architekturfakultät formierten und radikale Utopien entwarfen, um die Grenzen ihrer Disziplin neu auszuloten. Sie traten mit politischen Aktionen, Installationen, Collagen und Videos oder Happenings an die Öffentlichkeit. Die gutbürgerliche Welt der Architektur zu eng für sie geworden. In Gruppen, die sich Archizoom, Superstudio, UFO oder Zzigurat nannten, entwickelten sie radikale Utopien, in denen die Zukunft als Spielfeld für neue Möglichkeiten aufschien.
Ein Eisblock, der die Strukturen des unter ihm verborgenen Gebäudes sichtbar lässt und die Architektur zum Monument der Natur macht: Gianni Pettenas „Ice House I“ wurde 1971 als Installation in Minnealpolis (Minnesota) verwirklicht – eine temporäre Installation, die zum Nachdenken über die Natur, über Gebäudetypologien und ihre Nutzungen einlädt, die sich in dem ungenutzten Schulgebäude unter dem Eisberg verbergen.
Mit schrillen Pop Art-Ideen, Happnings und Zukunftsvisionen, die unmittelbar an die imaginäre Kraft der Weltraummission Apollo 11 der NASA anknüpften, eroberten die Utopisten der damaligen Zeit den öffentlichen Raum vom Domplatz in Florenz bis nach Minneapolis und zum Mond. So entwickelte Alessandro Poli von Superstudio in seinen Fotomontagen „Architettura Interplanetaria“ eine Serie an atmosphärischen Einblicken rund um eine erdachte Autobahn von der Erde zum Mond. Möbel und Leuchten, Kleider und Filme sind nur ein Teil des immensen Repertoirs, mit dem die Utopisten ihre Ideen an die Öffentlichkeit trugen und die Gedankenwelt der Architektur auf den Kopf stellten, um sie aus ihrem Korsett zu befreien. Im CCA wird dieses Erbe mit 300 Ausstellungsobjekten aus dem eigenen und aus weltweiten anderen Archiven gezeigt. Die eindrückliche Schau ordnet die Exponate nach systematisch und inhaltlich relevanten Schlagwörtern wie „Natur“, „Der Mond“, und „Territorium“. Unter dem Stichwort „Aktion“ wird deutlich, inwiefern die damaligen Architektur-Utopien auch in die radikale Studentenbewegung der 1968er-Jahre aufgingen und mit Protestaktionen zum Umdenken aufrufen wollten.
Text: Sandra Hofmeister
Detail #5/2018