Der bizarre Designer Carlo Mollino in München
Ein Rennwagen wie ein lebendiges Wesen: In prallen Kurven verwandelt sich die Karosserie zu einem Körper mit seitlichen Kiemen, der Kühlerrost wird zum Schnurrbart, die Scheinwerfer werden zu Augen. Beim 24-Stunden-Rennen in Le Mans war der Wagen allerdings nach wenigen Runden wegen technischer Mängel zur Aufgabe gezwungen. Der Ausflug in die Welt des Autodesigns, den Carlo Mollino in den fünfziger Jahren mit dem Bisiluro unternahm, war nur eines von vielen seiner kurzweiligen Abenteuer.Dem Turiner Architekten, Erfinder und Ästheten kam es nicht auf den Rausch der Geschwindigkeit an, er wollte die Möglichkeiten der Bewegung im Raum erkunden. Seine Beobachtungen zur Technik der Stemmbögen dokumentierte er in einem Buch über das Skifahren, seine akrobatischen Kunstflugmanöver hielt er in akkuraten Zeichnungen fest, und selbst Möbelentwürfe wie die Messing-Garderobe, die Mollino 1940 für seinen Künstlerfreund Italo Cremona entwarf, zelebrieren die Kurve im Raum wie ein barockes Capriccio.
Die Disziplinen wechselte der Exzentriker ebenso oft und unbekümmert, wie er Stile miteinander verquickte. In seinen abgeschirmten Turiner Wohnungen schuf er sich schon Mitte der dreißiger Jahre surrealistische Bühnen, die er als Setting für Fotografien, nicht aber zum Übernachten nutzte. Erinnern seine frühen Frauenporträts in der Casa Miller noch an Man Ray, den er bewunderte, so widmete sich der Fotograf in seiner Dunkelkammer zunehmend erotischen und in seinen späten Lebensjahren pornografischen Aufnahmen. Die Münchner Ausstellung zeigt einen widersprüchlichen Künstler, der abseits von Rationalismus und Funktionalismus einen ungewöhnlichen Weg in die Moderne ging. Mit originalen Fotografien und Möbeln, Publikationen und Zeichnungen aus Archiven und Privatsammlungen verdichtet die Schau ein vielschichtiges, zuweilen recht akademisches Gesamtbild. Die eigentliche Entdeckung in München bleibt Mollinos bislang unterbewertetes architektonisches Werk: Seine Bauten in der Umgebung von Turin und im Aostatal sind Gesamtkunstwerke, die wie Ready Mades die Montage disparater Elemente erkennen lassen.
Für die Casa Garelli ließ der Architekt einen alten Getreideschuppen in Blockbauweise abreißen, um ihn an einem anderen Ort auf einem Stahlbetonsockel wieder aufzubauen. Und das Teatro Reggio in Turin, Mollinos letztes Werk, tarnt seine schwingenden Innenräume, die wie surrealistische Bilder inszeniert sind, hinter einer Barockfassade an der Piazza Castello. Armin Linkes wunderbare Fotografien zeigen Mollinos Architektur in ihrem heutigen Zustand: als hybride Fantasiewelten, die sich der Kunst der Aneignung bedienen und heute selbst auf unterschiedliche Arten ausgebeutet werden. Im Ballsaal Lutrario wird immer noch jeden Freitag getanzt. Die Choreografie dazu hat Mollino vor fünfzig Jahren geschrieben.
Text: Sandra Hofmeister