Die beiden mehrfach ausgezeichneten britischen Designer Edward Baber und Jay Osgerby haben einen Stuhl entwickelt, der die Ära des Stillsitzens ad acta legt und stattdessen Bewegung in den Alltag bringt. Wie es zum Tip Ton-Stuhl kam, erläutert Edward Barber im Gespräch mit Sandra Hofmeister.
Ihr Entwurf für den Tip Ton geht auf eine Studie für die Royal Society of Arts über Schulstühle zurück. Was haben Sie herausgefunden?
Wir haben festgestellt, dass der Markt eine große Leerstelle in diesem Bereich hat. Zwar waren die existierenden Schulstühle nicht schlecht, doch sie entsprachen den heutigen Unterrichtsmethoden nicht mehr. Vor 20 oder 30 Jahren saßen alle Schüler frontal in Reihen vor der Tafel. Heute aber findet der Unterricht in Gruppen statt und es gibt jede Menge Bewegung im Klassenzimmer.
Viele Erwachsene erinnern sich an das mühselige Stillsitzen in ihrer Kindheit. Was hat sich geändert, dass diese Ära offenbar zu einem Ende kommt?
Dazu gibt es eine aktuelle Studie, die in Zusammenarbeit von Vitra mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule entstand. Wenn sich der Körper bewegt, führt dies zu einer höheren Herzfrequenz, weil das Herz mehr Sauerstoff in den Körper pumpen muss. Mit der Durchblutung verbessert sich ebenso die Sauerstoffversorgung des Gehirns. Man fühlt sich deshalb wacher und kann sich länger konzentrieren. Einige Bürostühle haben diesen Zusammenhang schon länger berücksichtigt durch eine Kippstellung nach hinten, wie etwa der Eames-Alu Chair. Wir wollten mit dem Tip Ton die Funktionalität für Schulstühle verbessern und die Bewegungsoption nach Vorne berücksichtigen. Mit den geneigten Kufen haben wir eine zweite, gekippte Sitzposition eingeführt. Unsere zweite Überlegung war, ein unzerstörbares Möbel zu entwickeln.
Was bedeutet das genau?
Wir entschieden uns für ein Material, das schnell und einfach zu verarbeiten ist und mehrere Vorteile hat. Aus einem Stück gegossen ist, kann der Stuhl nicht auseinander genommen werden. Auch Lärmgründe sprachen für Kunststoff. Wenn Kinder einen Stuhl mit Metallgestell hinter sich herziehen, dann macht das eine Menge Krach. Hinzu kam noch, dass Farben des Kunststoffs solide und dauerhaft sind, sie bleiben, auch wenn der Stuhl zerkratzt wird oder Schläge abbekommt. Bei lackiertem Metall hingegen springen die Farben ab.
Warum haben sie die Sitzposition ausschließlich nach vorne gelenkt und nicht zusätzlich noch in andere Richtungen?
Ursprünglich dachten wir einmal an einen Freischwinger. Wenn aber eine Person mit mehr Gewicht auf ihm sitzt, dann gibt die Sitzschale stärker nach als bei leichteren Nutzern. Unser Stuhl jedoch sollte nicht für spezielle Nutzer und außerdem sehr robust sein. Letztlich haben wir das Kufengestell gewählt, weil das der einzige Weg war, die selbe Bewegungsoptionen für jeden Nutzer zu kontrollieren, egal wie groß oder klein und wie schwer er ist.
Tip Ton ist nicht nur für Schulen, sondern ein Unversalstuhl auch für Erwachsene Nutzer. War das von Beginn an geplant?
Die Größe des Stuhls kommt eigentlich von der Schule der Royal Society of Arts, wo Schüler von 12 Jahren aufwärts unterrichtet werden. Wir wussten also, dass das Modell von seiner Größe auch für Erwachsene passen kann. Trotzdem war das Projekt zu Beginn dezidiert ein Stuhl für Schulen. Die Prinzipien der Nutzung sind jedoch immer dieselben, egal ob zu Hause am Esstisch oder im Unterricht. Wer an einem Tisch sitzt, der lehnt sich oft nach vorne. Wir wollten einen schönen und zweckmäßigen Stuhl entwerfen, der in diesem Sinne genutzt werden kann – zu Hause und in der Schule. Rolf Fehlbaum von Vitra legte großen Wert darauf, dass es ein attraktiver Stuhl ist, er wollte auf keinen Fall ein Möbelstück, das wie eine Vorrichtung aussah. Deshalb haben wir gemeinsam mit Vitra recht lange experimentiert während des Designprozess.
Das Schulgebäude der Royal Society of Arts ist längst fertig gestellt, aber es wurde nicht mit dem Tip Ton möbliert…
Wir wurden damals lediglich gebeten, Möbel auszuwählen und zu empfehlen. Das Schulgebäude wurde aber vor der Serienreife unseres des Stuhls fertig. Schließlich dauert es einige Jahre, einen Stuhl zu entwickeln. Insgesamt war Tip Ton nie für eine spezielle Schule bestimmt, auch wenn sein Name von der Schule der RSA kommt, die in einem Ort namens Tipton bei Birmingham steht.
Text: Sandra Hofmeister