Design ist keine Disziplin, sondern eine Haltung“, sagte Achille Castiglioni einmal und definierte diese Haltung als Selbstverständnis zur kritischen Auseinandersetzung mit humanistischen Werten, technischen Problemen und ökonomischen sowie politischen Fragen. Als der italienische Gestalter und zurückhaltende Doyen der Design-Szene vor fünf Jahren starb, war das Atelier von Alfredo Häberli in Zürich bereits eine gesuchte Projektschmiede für internationale Aufträge. Der Schweizer hatte gleich nach dem Studium ein eigenes Büro eröffnet – auf den Rat von Castiglioni. Die Haltung, mit der sich Häberli bis heute ans Entwerfen macht, entspricht der seines Ratgebers und Vorbildes aus Mailand.
Endstation Tiefenbrunnen
Ratternd schiebt sich die Tram durch die engen Gassen in Zürich, kreischt um die Kurven und dringt immer weiter vor in hohe Häuserschluchten, die sich mehr und mehr öffnen. Plötzlich kommt die Fahrt zum Stehen, die Türen springen auf und entlassen die letzten Fahrgäste direkt am Zürichsee, beinahe im Grünen. Endstation Tiefenbrunnen. In einem der flachen Häuser, die mit Blick über den See den Hang hinauf gestaffelt sind, ist das Atelier „Alfredo Häberli Design Development“. Auf der Terrasse vor dem Eingang stehen drei kupferfarbene Bänke in der Kälte. Drinnen im Warmen öffnet sich ein großer Raum mit hohen Stahlregalen. Bücher sind sorgfältig gestapelt und kuriose Fundstücke zu Schaubildern an die Wand gepinnt. Zwischen Skizzenbüchern
und Prototypen steht der filligrane Drahtstuhl „Nais“, den Häberli für ClassiCon entworfen hat (2003).
„Kommen Sie, kommen Sie. Ich zeige Ihnen alles“, sagt ein schwarz gekleideter Mann mit dichten grauen Haaren,
der quer durch den hellen Raum der ehemaligen Fabrikhalle herbeieilt.
Loungesessel und Ledertaschen
Das aufgeräumte Durcheinander seines Ateliers in Zürich
ist zugleich entspanntes Refugium und zielorientiertes Gestaltungslabor. Alfredo Häberli ist 42 Jahre alt, und wenn der Schweizer Designer ins Erzählen kommt, ist er kaum zu bremsen. „Alles beginnt bei der Leidenschaft“, sagt er bei- läufig und meint damit Details, die ihn begeistern: Das Rascheln von Pergamentpapier etwa oder der Geruch von Leder stehen am Anfang eines Projekts. Häberlis Portfolio ist so vielseitig wie kaum ein anderes; der Schweizer entwickelte bislang etwa zwei Dutzend Ausstellungskonzepte, er entwirft elegante Interieurs in Zürich, Paris oder London, gestaltet Loungesessel und Ledertaschen, Holztische und Porzellangeschirr. Derzeit arbeiten er und seine sechs Mitarbeiter an einer Stoffkollektion und dem Mailänder Show- room für Kvadrat, einer Schuhserie, einem Outdoor-Stuhl, der schon als 1:1-Modell im Atelier zu sehen ist, und an einem „Vehikel“ für Volvo, das bis zum nächsten Autosalon in Genf noch geheim bleiben muss. Die Schweizer haben Häberli längst mit vielen Design-Preisen bedacht. Vor zwei Jahren wurde er in Paris zum Designer des Jahres gekürt, und die letzte Interieur-Biennale im belgischen Kortrijk feierte den vielseitigen Gestalter als Ehrengast mit einer großen Einzelausstellung. „Natürlich merke ich, dass ich etwas erreicht habe. Mein Name wird jetzt gerne verwendet“, sagt Häberli. Ein bisschen stolz und etwas verlegen.
Zeit und Erfolg
Neben den berühmten Vasen von Alvar Aalto produziert die finnische Firma Iittala täglich etwa 30 000 seiner „Essence“- und „Senta“-Weingläser. Häberlis Entwürfe werden weltweit verkauft und sind so erfolgreich, dass der Schweizer Designer samt Familie von ihnen leben kann. Was ziemlich ungewöhnlich ist. Von lauten Marketing-Auftritten hält er wenig, und zu gestalterischen Schnellschüssen lässt er sich nicht hinreißen. „Mir kommt es darauf an, Inhalte vorzustellen und Sachen aufzuspüren, die interessant sind“, sagt der gebürtige Argentinier mit rauer Stimme und leichtem Akzent, der sich nicht zwischen dem Schwyzerdeutschen und dem Spanischen entscheiden kann. „Wenn ich mich tiefer mit einem Thema beschäftige, dann brauche ich vielleicht zwei Jahre, weil ich langsam arbeite. Aber ich entdecke dann auch Sachen, die vorher niemand gesehen hat. Nicht weil ich besser bin, sondern weil ich mich sorgfältig annähere.“ Als ob dies zu bestätigen wäre, wirft eine große Leuchtskulptur hinter ihm makelloses weißes Licht an die Decke. Die unauffällige Stehleuchte „Carrara“ (Luceplan, 2000) hat einen großen Reflektor und einen kelchförmigen Leuchtkopf mit Volumen – gleich zwei Sparlampen finden dort nebeneinander Platz. „Das macht schönes Licht und ist immer noch billiger als eine normale Glühbirne“, sagt Häberli und lächelt lausbübisch. Als die Energiesparlampen in den 80er Jahren aufkamen, haben sich viele Designer auf sie gestürzt und dabei weiterhin wie mit Halogenleuchtmitteln entworfen. Ein Fehler, den Häberli mit seiner Stehleuchte korrigieren wollte.
Argentinien und Zürich
Als Dreizehnjähriger kam Alfredo Häberli aus Argentinien in die Schweiz. Nach der Ausbildung zum Hochbauzeichner studierte er Industriedesign an der Zürcher Hochschule
für Gestaltung. Schon während des Studiums war er an der Konzeption von Ausstellungen beteiligt, und später kuratierte er dann so umfangreiche Projekte wie die große Bruno-Munari-Schau oder die Präsentation von Gebrauchsanwei- sungen im Museum für Gestaltung. Der internationale Durchbruch als Industriedesigner gelang mit dem Regalmodulsystem „SEC“, das Häberli 1997 zusammen mit Christophe Marchand für die italienische Firma Alias entworfen hatte. „Niemand hat damals Investitionen getätigt, doch in so ein System investiert man Millionen. Das war antizyklisch, da wurden die Leute neugierig“, erklärt sich Häberli rückblickend den Erfolg des Systemmöbels, das ihn beim Salone del Mobile in Mailand über Nacht berühmt gemacht hatte. Sein heutiges Atelier „Alfredo Häberli Design Deve- lopment“ gründete der Designer vor sieben Jahren. Weitere Möbelentwürfe für Moroso, Cappellini, Zanotta und ClassiCon kamen seitdem zu zahlreichen Aufträgen für die Gestaltung verschiedener täglicher Gebrauchsgegenstände hinzu.
Ästhetik und Alltag
„Meine Ideen kommen aus dem Alltag heraus. Ich sammle Themen, die gestaltungstragend werden, Themen, die ich in drei bis fünf Sätzen benennen kann“, sagt Häberli zu seiner Methode. An seinen Entwürfen überraschen meistens die Details: Die Kunststoffschale des eleganten „Segesta“-Stuhls zum Beispiel ist in Belastungszonen eingeteilt und je nach statischer Beanspruchung in unterschiedlicher Material- stärke ausgeführt, was technisch erst seit kurzem möglich ist. Auf Höhe der Rückenlehne gibt das mehrschichtige Technopolymer sogar leicht nach, was den Sitzkomfort enorm verbessert. Häberlis Design ist meistens reduziert aber nicht minimalistisch, es ist vielseitig einsetzbar, ohne mit einem dezidiert multifunktionalen Programm aufzuwarten. Die Form ist für den Gestalter eine Konsequenz mehrerer Überlegungen und gehört nicht an den Anfang, sondern an den Schluss eines Entwurfsprozesses. Der verantwortungsbewusste Umgang mit möglichst wenig Material und die Suche nach dem Grund, warum man etwas macht, prägen Häberlis Arbeitsweise. „Es ist eben doch entscheidend, wo man aus- gebildet wurde“, sagt er und meint, dass Schweizer Design einen erkennbaren Charakter hat.
Zeichnen und Modellieren
In den unzähligen Skizzenbüchern, die Häberli sorgfältig archiviert und verwaltet, zappeln kleine Figuren über das Papier, und Alltagsgegenstände wirbeln herum. Der Strich verselbstständigt sich und macht sich auf den Weg, alle seine Möglichkeiten auf der weißen Fläche zu erkunden. „Wenn die Hand beim Zeichnen nicht mehr vom Kopf geleitet ist, sondern vom Bauch, dann ist das ein faszinierender Moment“, meint Häberli nachdenklich. „Meine Skizzen
sind schlimm, und sie sind eigentlich nicht schön. Aber man spürt vielleicht die Linie, und ein Stück weit einen grafischen Moment“, sagt der gelernte Bauzeichner, für den das Skizzieren bis heute entscheidend zum Entwerfen ist. Hinzu kommen 1:1-Modelle, und am Ende des Gestaltungsprozesses sei dann auch der Computer hilfreich. Einige von Häberlis Entwürfen sehen aus wie dreidimensional gewordene Strichzeichnungen, deren Linien statt auf auf Papier im Raum gezogen sind. Der Loungesessel „Take a line for a walk“ (Moroso, 2003) steht ohne Stoffbezug da wie eine kuriose Strichskulptur und macht sich Häberlis Entwurfsgrundlagen auch in seinem Namen zu eigen.
Schuhe und Diskurse
„Bei uns im Design wird einfach nur gelobt, aber es gibt keine Debatte. Wir haben sozusagen keine Meinungsverschiedenheiten und sind immer alle lieb zueinander. Das
ist ein großer Unterschied zu Architekten. Da findet noch ein Diskurs statt“, sagt Häberli. Oft werde Design mit reiner Formgebung verwechselt und gleite in die schicke Oberflächlichkeit ab. „Das brauchen wir nicht“, fügt der Gestalter mit Nachdruck hinzu. Die kritische Auseinandersetzung, das Schmunzeln und der hintergründige Humor gehören mit zu seinem Selbstverständnis als Designer. Statt reiner Produkte – „das wäre viel zu langweilig“ – zeigt seine kürzlich erschienene Monografie Experimente von Künstlern mit Häberli-Entwürfen. Roman Signer führte eine Reihe Explosionsversuche durch und setzte den Segesta-Stuhl in Brand, und Stefan Burger ging mit Stühlen und Sofas auf Reisen und dokumentierte dabei surreale Szenerien. „Künstler machen Dinge, die nicht messbar sind. Man kann sie nicht zuordnen und nicht benennen. Das finde ich toll“, sagt Alfredo Häberli. Kürzlich wurde nach seinen Plänen ein Camper-Laden in der noblen Rue Faubourg in Paris eröffnet. In dem kleinen Raum werden die Verkaufsstücke auf Augenhöhe präsentiert, und die Stoffleuchten über dem hohen Tisch mit dem Schuhwerk haben die Form von Röcken und Hosen. An der Wand hängen siebzig unterschiedlich große Cartoons, die Alfredo Häberli gezeichnet hat. Sie erzählen Geschichten über Schuhe und über Paris.
Text: Sandra Hofmeister