Früher war die Lebenswelt des Menschen klar geordnet. „Wohnen“ beschränkte sich auf die vier Wände des „Wohnzimmers“, die Küche war allein zum Kochen bestimmt, und das Schlafzimmer blieb tagsüber ungenutzt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Art, wie wir heute leben, hat starr zugewiesene Raumfunktionen aufgehoben. Im digitalen Zeitalter vermischen sich Bereiche, die im Grundriss von Wohnungen und Häusern fein säuberlich getrennt waren. Wie das Leben selbst, so findet auch das Wohnen in flexiblen Zonen statt, die sich den wandelnden individuellen Bedürfnissen anpassen. Trotzdem sind in vielen Städten Wohnungsschnitte, die solche Flexibilität zulassen, nach wie vor rar. Deshalb wird den Bewohnern von Häusern und Geschosswohnungen viel Improvisation abverlangt.Wer übers Wochenende Besuch erwartet, der verwandelt den Essbereich ins Gästezimmer. Die Küche mutiert regelmäßig zum Home Office, die Kinder nutzen den Flur als Kicker-Zone. Und in Sommermonaten ersetzt der Hinterhof den Partykeller oder den eigenen Garten – die Nachbarn helfen dann beim Organisieren der Großbildleinwand mit. Städter sind Wohnprofis, die Innen- und Außenräume spontan vereinnahmen. Erlaubt ist dabei alles, was der jeweiligen Lebenssituation gerecht wird und ebenso schnell wieder rückgängig gemacht werden kann. Statt großer Schränke und schwerer Polstermöbel möbliert nun der persönliche Ausdruck den individuellen Wohnkosmos. Die monströse Sofagarnitur ist einem Mix flexibler, leichter und kostengünstiger Möbel gewichen, die ihren vielfachen Nutzen von einem zum nächsten Lebensabschnitt neu unter Beweis stellen. So bringt die „Caboche“-Deckenleuchte von Patricia Urquiola und Eliana Gerotto für Foscarini den Flohmarkttisch zum Strahlen. Das kleine 2-Sitzersofa „TT“ von Alfredo Häberli kann überall hin verstellt werden, wo es gerade gebraucht wird. Der „Supernatural“-Armlehnenstuhl von Ross Lovegrove bleibt auch mal auf der Terrasse im Regen stehen, doch seine organischen Formen machen sich besonders gut neben der Biedermeierkommode. Und im Schlafzimmer parkt das Fahrrad neben dem eleganten „Wish“-Bett von Rodolfo Dordoni, als Bücherablage dient ein selbst gebasteltes Provisorium oder eine Obstkiste. Statt eines normierten Einheitsstils, der Gardinen und Nachtkästchen in eine sorgsam inszenierte Homogenität einbezieht, herrscht heute der individuelle Ausdruck.
Als Versprechen an die Zukunft bot das Eigenheim bisher einen festen Ankerplatz fürs Leben und Sicherheit fürs Alter. Heute bleibt die Zukunft allenthalben ungewiss: Wer weiß schon, wann der nächste Umzug ins Haus steht? Wie lange die Kinder noch zu Hause wohnen? Ob die Miete auch in drei Jahren noch bezahlbar ist? Wohnen hat sich von seinen Zukunftsverheißungen und Sehnsu?chten befreit. Was bleibt, ist ein Versprechen an die Gegenwart. Warum nicht in vollen Zu?gen genießen, was morgen vielleicht keine Gültigkeit mehr hat?
Am Puls der Zeit in Städten liegen Balkone, Terrassen und Hinterhöfe, die Innen und Außen verzahnen und eine Lebensqualität versprechen, die sich längst von der Doppelgarage gelöst hat. In den Wohnräumen bleibt nichts mehr an seinem festen Platz, alles steht zur individuellen Disposition. Die freistehende Philippe Starck-Badewanne triumphiert im Schlafzimmer, der Schalenstuhl Catifa des katalonischen Designertrios Lievore Altherr Mollina passt ebenso gut in die Küche wie an den Schreibtisch, der Fernseher ist ohnehin transportabel – und mit W-Lan ist auch der Balkon noch online.
Recyclingmaterialien und nachwachsende Rohstoffe sind mehr denn je gefragt auf dem Möbelmarkt. Mit Stuülen, die aus den Resten von Textilfabriken gefertigt sind wie die des Nuance-Sessels von Casamania und Kunststoffen mit Öko-Zertifikaten zieht das Grün in die Möbelwelt ein. Die zunehmend ökologisch bewusste Gesellschaft legt Wert auf die Herkunft, Qualität und Lebensdauer. In diesem Sinne wiederum gilt: Soviel Weitblick in die Zukunft gab’s schon lang nicht mehr.
Text: Sandra Hofmeister