Wie mag Musik wohl aussehen, wenn der Klang Gestalt annimmt und den Raum für sich vereinnahmt? Tonfolgen aus symphonischen Werken könnten sich zu bunten Wäldern aus fließenden Formen verwandeln, in rhythmischen Skulpturen verdichten, wieder auflösen und am Horizont verlieren. Akkorde türmen sich zu modernen Bauwerken auf und genießen die Harmonie des rechten Winkels, bilden eindringliche Raumkomposition in Dur oder Moll. Wahrscheinlich umzirkeln Arnold Schönbergs Klangarrangements einen experimentellen Raum. Die Kammermusik aus der Zeit des Barock hingegen zeichnet ähnlich wie die Architektur der entsprechenden Epoche weiche Kurven und Linien zu einem dreidimensionalen, schiefrunden Sinneswirbel.
Eben diese Assoziation muss auch das Entwurfsteam von Zaha Hadid gelenkt haben, als es den temporären Bach-Pavillon für das Manchester International Festival 2009 entwickelte: In der abgeschotteten Musikbox schlängeln sich Bachs wohltemperierten Klänge in leichten Schwüngen durch die Luft und mutieren zu einem fließenden Raum. Dabei werden die Klanfolgen als reduzierte architektonische Endlosschleife erfahrbar, die sich befreit vom baulichen Kontext als eigenständige Skulptur vor dem puristischen, existenzialistischen schwarzen Hintergrund eingenistet hat. „Offensichtlich gibt es für manche Leute eine enge Beziehung zwischen Musik und der Art, Räume zu gestalten“, sagt Zaha Hadid zu ihrem Entwurfskonzept. „Aber wir haben es wirklich nicht darauf angelegt – wir haben die Musik nicht wörtlich in unseren Entwurf übertragen.“ Musik sei sprachähnlich aber nicht Sprache, resümierte schon Theodor Wiesengrund Adorno. Dasselbe gilt wohl ebenso für Architektur, und wenn die diese beiden nicht sprachlichen Gebilde zusammenkommen, entsteht eine neue nicht-sprachliche und doch in ihrer Struktur sprachähnliche Erfahrung. Statt der analytischen Übertragung einzelner Noten und Akkorde in verschiedene Entwurfsschichten der Architektur zeigt sich der Musik-Pavillon der britischen Architekten als ein assoziativer und emotionaler Raum, dessen Wirkung die Zuschauer gleichsam umschließt. „Es ist fast, als ob man sich in einem Kokon befinden würde“, beschreibt Zaha Hadid diesen Effekt. Der Unterschied zur standardisierten Konzerthalle mit rechwinkligem Grundriss liege auf der Hand: „Wenn man sich in einem fließenden Raum befindet, ist die Wirkung ganz anders, die Eindrücke sind komplexer, vielleicht wird man auf sanfte Art intensiver eingehüllt“, ergänzt die Architektin.
Von Manchester nach Abu Dhabi
Der temporäre Pavillon ist mit seinen Maßen von 17 x 25 Metern eigens für das Klangerlebnis der Kompositionen von Johann Sebastian Bach konzipiert und war erstmals letztes Jahr während in Manchester zu sehen, wo er jeweils 192 Zuhörer an neun Abenden mit Klavier-, Cello- und Violinkonzerten in seinen Bann zog. Im Frühsommer diesen Jahres tourte die fliegende Musikbox zum Holland Festival nach Amsterdam und die seine nächste Station wird das kammermusikalische Klangkabinett im Frühjahr 2011 in Abu Dhabi finden – Flying Bach in Zeiten des interkontinentalen Musikerlebnis. Temporäre Musikpavillons dieser Art haben Tradition: Für die Brüssler Weltausstellung 1958 hatte der Architekt und Komponist Iannis Xenakis, damals Assistent von Le Corbusier, den temporären Philips-Pavillon für Edgar Varèses „Poème électronique“ entworfen. Für die Darbietung von Luigi Nonos Klanguniversum „Prometeo“ stattete Renzo Piano 1984 das Hauptschiff von San Lorenzo in Venedig mit einem riesigen hölzernen Klangkörper aus, der die Aufführung in eine „Tragödie des Hörens“ verwandelte. Und die Bayerische Staatsoper gönnte sich für die diesjährigen Festspiele eine temporäre Spielstätte auf dem Marstallplatz in München. Wie ein Drache breitet sich dort das stachelige temporäre Gebäude der Wiener Architekten Coop Himmelb(l)au zwischen den Albauten aus und verspricht neue Entdeckungen als ein Ort, an dem musikalische und architektonische Spannungen zusammenkommen.
Der Reiz, Musik in einem eigens dafür geschaffenen Raum im Raum darzubieten, losgelöst vom historischen Kontext altehrwürdiger Opernhäuser und gediegener Konzertsäle, ist nahe liegend. In Zaha Hadids Hommage an Bach geht ein voluminöses Band aus weißem Stoff auf den Dialog mit dem Komponisten ein, es dehnt sich vom Solisten ausgehend in mehreren Schleifen im Raum aus, umgibt die Zuhörer mit Kaskaden einer fließenden Skulptur, die vor den schwarz gehaltenen Wänden noch deutlicher hervorsticht. Überlegungen zum Maßstab, zur Struktur und der Akustik waren entscheidend für den Entwurf des dynamischen Bandes, dessen transluzente Oberfläche aus einer hellen Membran auf eine an der Decke befestigte Unterkonstruktion aus Stahl gespannt ist. In den verschiedenen Schichten und Blickachsen, die sich an den unterschiedlichsten Punkten des Raumes immer neu auftun, verdichten sich zirkuläre und visuelle Bezüge zu einem Kontinuum, das seinen Rhythmus durch stets neue Kurven ändert, die Bühne hervorhebt und einen intimen akustischen Raum für ein besonderes Zuhörer- und Zuschauererlebnis formt.
Das akustische Design der Raumskulptur
Mark Howarth war als Projektleiter des Akustik-Büros Sandy Brown Associates mit dem Bach-Pavillon beschäftigt. Aus der Telefonanlage seines Büros tönt Vivaldi in voller Lautstärke. „Die Akustik ist nicht wirklich überzeugend“, kommentiert Mark Howarth die Qualitäten dieser Warteschleife mit trockenem britischen Humor und lacht. Beim Bach-Pavillon hingegen sei das anders: Die Akustikingenieure wurden 2008 von den Architekten in die Entwurfsphase einbezogen. Ihr Augenmerk richtete sich vor allem darauf, die unterschiedlichen Materialien des Raumes in einer akustischen Balance für das Kammermusik-Erlebnis zu halten. „Viele Top-Musiker sind gewohnt, in großen Konzerthallen vor einem großen Publikum zu spielen. Doch die Schwierigkeit für Kammermusik ist dabei, dass sie ihre ursprüngliche Akustik verliert – sie wurde schließlich ursprünglich für kleine Räume komponiert wurde. Durch die lange Nachhallzeit in großen Konzertsälen verliert sie viele Details und Nuancen“, erklärt Mark Howarth die Besonderheiten der Kammermusik. Das Ziel der Planer war, eine intime akustische Situation zu schaffen, die mit mittleren Nachhallzeiten angemessen auf die Musik eingeht und sie in Szene setzt. Die optimalen Konditionen von 1,4 bis 1,7 Sekunden Nachhallzeit bei mittleren Frequenzen und höherer Nachhallzeit bei den tiefern Bassfrequenzen erreichten die Ingenieure durch eine genaue Analyse der Materialien der Architektur des Pavillons. „Wir haben auch verschiedene Materialien für das spiralartige Band getestet, darunter waren Metall, Plastik und viele andere“, erinnert sich Howarth. Die Entscheidung fiel auf eine dehnbare, synthetische Membran, die den Klan streut. „Wir wollten, dass der Ton beim Aufprall auf das Material nicht wie ein vielseitiges Echo zurückkommt, sondern das Material durchdringt und sich im Raum ausbreiten kann“, sagt der Akustikingenieur. Um das Klangerlebnis in der letzten Reihe zu optimieren und es der Akustik ganz vorne nahe der Bühne anzupassen, wurden zwei kaum sichtbare Reflektoren aus Acrylmaterial über der Bühne angebracht. Der umliegende, ganz in Schwarz getauchte Raum funktioniert nach dem akustisch optimalen Prinzip einer Schuhschachtel, wobei auch die Art der Bestuhlung – im Pavillon stehen fast 200 Panton Chairs aus Kunststoff – auch ausschlaggebend für die akustischen Berechnungen war. So wurden per Software verschiedene Akustikszenarien entwickelt und als Modell angefertigt, um das Zusammenspiel der Materialien in Nuancen festzulegen. „Wer einmal in dem Raum ist, wird eine Welt vorfinden, in der alles koordiniert ist: Die schwarzen Stühle, der dunkle Boden, die schwarzen Wände samt der weißen Inseln. Alles ist monochrom“, sagt Mark Howarth. Dass auch die Akustik als Teil des Designs auf diesen umfassenden Gestaltungsansatz reagiert, ist für ihn selbstverständlich und gar nicht erst erwähnenswert.
Mit viel Aufwand setzten die Architekten alles daran, die Erfahrung des Pavillons auch außerhalb der einzelnen musikalischen Darbietungen zu einem Erlebnis zu machen. Programmiertes Licht fällt auf das zirkuläre Band und taucht den schwarz-weißen Raum in ein Spiel aus Licht und Schatten. Musik vom Tonband breitet sich im Hintergrund aus, wenn die Besucher die schwarze Box als temporäre Installation ergründen. In Container verpackt wird der Bach-Pavillon zum transportablen Festival-Objekt, das sich an immer neuen Orten zeigt und die Kunst des Hörens mit der Raumerfahrung verbindet. Ein architektonisches Kammerstück, das Zaha Hadids expressive Handschrift mit der von Johann Sebastian Bach vereint.
Text: Sandra Hofmeister