Von den Pionieren der 1960er-Jahre bis zur heutigen Produktkultur
50 Jahre Design zeigen nicht nur Materialentwicklungen und technologischen Fortschritt, sie spiegeln auch neue gesellschaftliche Bedürfnisse und neue Produkttypologien, die in die Welt des Alltags Einzug gehalten haben, sie manchmal sogar verändert haben. Vieles, was bereits in den Meisterwerkstätten des Bauhaus erdacht und erprobt wurde, diente dabei als Ausgangspunkt, wurde optimiert, weiterentwickelt und angepasst oder revidiert. Fragen der industriellen Fertigungsmöglichkeiten, der Konstruktionsmechanismen, der Funktions- und der äußeren Erscheinungsform erstrecken sich heute auf eine ganze Bandbreite von Alltagsgegenständen, die in allen Lebensbereichen zu Hause sind. Design erfasst unsere Alltags- und Produktkultur generell, es betrifft virtuelle und reale Objekte von der Bratpfanne bis zum Kugelschreiber und vom Wohnzimmersofa bis zum Handyinterface. So spaltet sich die Geschichte des Designs in viele einzelne Geschichten auf, die neue Kapitel in der Kommunikations- und Möbelbranche, im Automotive- oder Produktdesign aufschlagen. Aus einer jungen Gestaltungsdisziplin, die sich ursprünglich aus der Architektur entwickelt hatte, wurde ein selbstbewusstes, eigenständiges Lehrfach an den Hochschulen, das zudem so vielschichtig wie kaum ein anderes ist.
Rückblick
Vor 50 Jahren war die Welt noch anders: Im Sommer 1961 beginnt die DDR-Regierung mit dem Bau der Berliner Mauer. Der neu ins Präsidentenamt gewählte John F. Kennedy bietet Chruschtschow die Stirn. Le Corbusier stellt das Kapitol in Chandigarh fertig, Eero Saarinen stirbt in Ann Arbor und neben der ersten Ausgabe der Zeitschrift Archigram erscheint im selben Jahr auch die erste Nummer der Detail. Die neue Weltordnung verlangt nach neuen Gestaltungsmaßstäben und neuen Formen des Wohnens, die der Sowjetpropaganda Paroli bieten und den Weg in die Zukunft vorgeben. Das Hansaviertel in West-Berlin setzt ein architektonisches Signal für diese Ära, die sich vom Ballast der Vorkriegszeit befreit und nach internationalen Vorbildern sucht. Der Rat für Formgebung unterstützt deutsche Unternehmen in Gestaltungsfragen, die seit der Gründung der Stiftung durch einen Bundestagsbeschluss von 1953 auch als Wirtschaftsfaktor gelten. Mit dem gläsernen Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel hatte Egon Eiermann gemeinsam mit Sep Ruf den Takt in Gestaltungsfragen vorgegeben. Im Spätsommer 1961 findet erstmals auf Initiative einiger italienischer Möbelhersteller der „Salone del Mobile“ in Mailand statt. Heute ist aus der seinerzeit übersichtlichen regionalen Leistungsschau die größte internationale Möbel- und Designmesse geworden, die jährlich etwa 300.000 internationale Besucher anzieht.
Pioniere: Dieter Rams und Verner Panton
„Das war eine Aufbruchzeit. Wir wollten alles verändern und besser machen“, erinnert sich Dieter Rams an seine ersten Jahre bei der Firma Braun im Taunus. Schon in den 1950er-Jahren hatte der junge Unternehmer Erwin Braun mithilfe der Ulmer Hochschule einen neuen Weg in der Gestaltung von Elektrogeräten eingeschlagen. Befreit vom unnötigen Gepäck der Dekoration und des „Gelsenkirchener Barock“ (Rams) propagierten diese Geräte passend zum Neuen Wohnen die schlichte, funktionale Form. Wirtschaftlicher Erfolg war den Aufsehen erregenden Küchenmaschinen, Rasierapparaten und Transistorradios zunächst zwar nicht bestimmt. Trotzdem galten die „unaufdringlichen, stillen Helfer und Diener“, wie der junge Unternehmer sie selbst verstand, als Vorreiter und wurden schnell weltberühmt. Auch die Musterwohnungen der Interbau 1957 im Hansaviertel waren fast ausnahmslos mit Braun-Geräten ausgestattet.
Als der gelernte Innenarchitekt Dieter Rams 1961 zum Direktor der Design-Abteilung des Unternehmens wurde, hatte die „Radio-Phonokombination SK“, die er 1956 gemeinsam mit Hans Gugelot entworfen hatte, bereits große Wellen geschlagen. In einer Zeit, in der Radioapparate als große Musikschränke in deutschen Wohnzimmern zu Hause waren, präsentierte sich das nüchterne neuartige Gerät, das als „Schneewittchensarg“ berühmt wurde, in einem geradlinigen, U-förmig gebogenen Blechgehäuse, das zwischen zwei Holzwangen platziert und von einer Plexiglashaube geschützt wurde – ein Material, das im Elektrobereich neu war. „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich“, heißt eine der zehn Thesen, mit denen Dieter Rams sein Credo als Gestalter festgehalten und den Zusammenhang von Form und Funktion auf den Punkt gebracht hat. „Weniger, aber besser“.
Etwa zeitgleich zu Dieter Rams Aufstieg bei Braun experimentierte der dänische Architekt Verner Panton mit Mitteln und Methoden, den Kragstuhl in eine zeitgemäße Materialsprache zu übertragen. Mit seinem Anliegen knüpfte der ehemalige Assistent von Arne Jacobsen an die Möbeltradition des Bauhaus an: 1926 hatte Mart Stam den ersten Prototyp eines freischwingenden Metallrohrstuhls für die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung entwickelt. Kurze Zeit später stellte Mies van der Rohe seine Version vor, und Marcel Breuer entwickelte weitere Varianten. Panton selbst hatte für Thonet einen Freischwinger aus Schichtholz entworfen, als ihm nach mehreren Experimenten ein Entwurf aus Kunststoff gelang. Befreit vom rechten Winkel und von den Argumenten der Funktionalismusdebatte läutete der Panton-Stuhl, der ab 1968 produziert wurde, den Siegeszug des Kunststoffs ein – in all seinen Farben und Formen.
Polymere und Polyurethane
Die erste Sitzschale aus Kunststoff hatten die amerikanischen Pioniere des Design, Charles & Ray Eames, bereits 1950 für den Wettbewerb „Low Cost Furniture Design“ des Museums of Modern Art in New York entwickelt. Ihr Plastic Chair wurde aus glasfaserverstärktem Acryl gefertigt. 1966 stellte der Architekt Helmut Bätzner mit dem „Bofinger Stuhl“ für das Karlsruher Staatstheater den ersten Monoblock-Stuhl aus Polyester vor. Polyurethane und Polymere öffneten dem Design der 1960er und 1970er-Jahre eine neue Welt: Nahezu jede Form war machbar, das Material leicht, farbig oder transparent, obendrein erhob es keinen Anspruch auf Langlebigkeit – auch das galt nicht als Nachteil. Entwürfe wie Vico Magistrettis stapelbarer „Selene“-Stuhl von 1969 setzten ästhetische Maßstäbe für Generationen von Designern. Kurven und Krümmungen wie die „Bubble Chair“ von Eero Aarnio oder Jo Colombos „Tubo“-Möbel sind als Ikonen in die Designgeschichte eingegangen. Verner Pantons Wohnlandschaft „Visiona 2“ auf der Möbelmesse in Köln 1970 setzte diesem experimentierfreudigen Abschnitt in der Geschichte der Gestaltung ein schillerndes, einprägsames Monument. Doch mit der Ölkrise Anfang der 1970er-Jahre und dem aufkommenden ökologischen Bewusstsein stand die Entfremdung der Wegwerfgesellschaft von natürlichen Materialien zunehmend in der Kritik. Kunststoff war nicht unbegrenzt haltbar, die schnelle Alterung des Materials offenkundig. So stellte die Möbelfirma Vitra in den späten 1970er-Jahren die Produktion des Panton-Chairs ein, nachdem sich der spritzgegossene Luran S (ASA) wenig dauerhaftes und brüchiges Material herausgestellt hatte. In den 1980er-Jahren wurde die Produktion mit dem aufwändigen aber zuverlässigen Gießverfahren aus Polyurethan-Hartschaum wieder aufgenommen. Die Kunststoffentwicklung machte ab den 1990-Jahren eine dritte Version möglich, deren Spritzgussverfahren aus recyclebarem Polypropylen den Kaufpreis deutlich reduzierte. Neue Technologien und Materialeigenschaften gaben dem Kunststoff eine neue Relevanz als vielseitiges Gestaltungsmaterial. So setzte Konstantin Grcic die Geschichte des Freischwingers mit einer vorerst letzten Fassung der Typologie aus BASF Ultradur High Speed fort: Sein Myto (2007) aus einem Stück des leicht fließenden Polyetylenterephthalat gefertigt, ist stapelbar und kann komplett recycelt werden.
Redesign mit Ironie und neuen Farben
Viele Entwürfe im heutigen Zeitalter des Redesign greifen die Themen der Klassiker auf, adaptieren sie und bringen in ihren Interpretationen nicht selten Humor mit ins Spiel. Sebastian Wrongs Deckenleuchte „Buggs Light“ spielt auf die Bauhaus-Tradition an und kommentiert sie mit einem clownesken Grinsen, das der mundegblasenen Deckenleuchte als Relief eingeschrieben ist. Patrizia Urquiolas „Come Back Chair“ erinnert an einen Windsor-Stuhl und entpuppt sich doch als ironische Kunststoff-Replik auf sein britisches Vorbild aus dem 18. Jahrhundert. Gemeinsam mit dem japanischen Label Muji legte Thonet ein Redesign des klassischen Kaffeehausstuhls und des Stahlrohrschreibtischs der Bauhaus-Zeit wieder auf – mit überarbeiteten Proportionen. Kein Redesign, sondern eher ein Update hin zum ursprünglichen Entwurfsgedanken stellt die neue Edition des Grand Comfort-Sessels LC2 von Le Corbusier und Charlotte Periand dar. Auf der Basis historischer Dokumente und Zeichnungen wurden in Zusammenarbeit mit der Foundation Le Corbusier Farbversionen für den Klassiker erstellt. Aus schwarzem Leder und glänzendem Chrom hat sich die Sessel-Ikone in das Gedächtnis eingeschrieben. Heute präsentiert sie sich nach der ursprünglichen Entwurfsidee Corbusiers und Perriands als Farbkombination aus Grün, Burgund oder Ocker.
Design-Art oder substanzielle Gebrauchsgegenstände
Mit aufwendigen Inszenierungen ließ sich das Design der 1990er-Jahre als Kunst feiern und zog in Galerien ein. So erzielte der „Aqua Table“ von Zaha Hadid, in einer limitierten Edition des britischen Label Established & Sons, auf einer New Yorker Auktion den Spitzenpreis von 296.000 US-Dollar. Die Praktikabilität im Alltag wurde zur Nebensache, der Sammlerwert von Einzelstücken rückte in den Vordergrund, proklamierte Industriedesign zur hohen Kunst und machte aus Designern Stars der Kunstszene. Doch die aktuelle Wirtschafskrise gebot dem Kunstwert von Design vorläufigen Einhalt. Statt exaltierter Gesten und schriller Exzesse propagierten Naoto Fukasawa und Jasper Morrison in ihrem gleichnamigen Manifest von 2006 „Super Normal“ als Gestaltungsziel. Möglichst wenige, recycelbare und einfache Materialien einzusetzen und auf neue Weise zu kombinieren, gehört seitdem mit zu den Leitthemen der Möbelbranche. Shigeru Ban widmete sich diesem Gedanken mit „10 Unit System“. Das Modulset aus dem Recycling-Material UPM ProFi kann mit wenigen Handgriffen zu Stühlen oder Bänken zusammengesteckt werden. Die finnische Marke Artek vermarktet es mit dem Slogan „One Chair is enough“ – und kommentiert so den Überfluss des Möbelmarkts. Welche gewagten Konstruktionen die Techniken der Holzverarbeitung heute zulassen, zeigt der „Houdini“ Stuhl von Stefan Diez für e15: Wie in der Entfesselungskunst winden sich die 4,5 Millimeter dünnen Schichtholzstreifen zu einer Einheit aus Lehne und Sitzfläche, die ohne Schrauben auskommt.
„Wir sind keine Rock’n’Roll-Stars. Leider sehen einige meiner Kollegen das anders und machen eine Show aus ihrem Leben“, meint der erfahrene italienische Architekt und Designer Piero Lissoni und kritisiert, dass die Qualität im Design heute manchmal auf der Strecke bleibt. Schon Dieter Rams schätzte die Integrität im Design und gab dabei auch Berufsethos und eine Haltung vor, die für viele immer noch Gültigkeit hat. Zu den bekanntesten Rams-Epigonen zählt der Apple-Chefdesigner Jonathan Ive. Dass er die virtuellen Tasten des iPhone-Taschenrechners denjenigen des Braun-Taschenrechners von Rams angeglichen hat, begreift Rams jedoch keinesfalls als gestalterisches Plagiat, sondern als Kompliment für sein Design.
Text: Sandra Hofmeister