Wie in einem Landschaftsbild verzweigt sich die organisch geformte Dachfläche des YueCheng-Kindergartens in Beijing in schmale Wege. Die einzelnen Stränge werden dann wieder zusammengeführt, bilden Plätze oder kleine Hügel. Das begehbare Dach ist durchgängig mit rotem Sportbelag über zogen und wird als Spiel- und Bewegungszone für 390 Kinder im Alter bis zu sechs Jahren genutzt. Rutschen, Treppen und Rampen führen hinunter in die Höfe der eingeschossigen Betreuungseinrichtung. Mit seinen fließenden Flächen umzirkelt das Gebäude eine Siheyuan-Hofanlage aus dem 18. Jahrhundert. Die Typologie steht par excellence für eine Architekturtradition, die im Zuge der Modernisierung großteils zerstört wurde. Tradition als Abenteuer „Ein Kindergarten muss das Gefühl von Freiheit und Geborgenheit vermitteln – und den Kindern unendliche Möglichkeiten vor Augen führen“, meint Ma Yansong, Gründungspartner von MAD Architects. 2017 wurde das chinesische Architekturbüro mit dem Entwurf des Kindergartens in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Seniorenresidenz beauftragt. Die Bauherren setzen auf die Integration der Generationen. Im sanierten Bestandsbau auf dem 9200 m2 großen Areal sind die Büros der Kindereinrichtung untergebracht. Der organisch geformte Grundriss des neuen Flachbaus legt sich um die historische Hofanlage. Alt und neu, Tradition und Gegenwart stehen nicht nur farblich in Kontrast. Die strenge Geometrie des Hofgebäudes bildet einen Gegensatz zu den dynamischen Kurven des Neubaus. Insgesamt ist die architektonische Intervention von MAD jedoch auf die Versöhnung der Gegenpole aus. Denn durch den Blick vom Dach wird die Architekturtradition Beijings mit ihren Pagodendächern und grauen Ziegeln aus einer neuen Perspektive erfahrbar. Baulich setzt der Kindergarten einen zeitgenössischen Rahmen für die Tradition, er zollt ihr Respekt und würdigt sie durch eine neue Art der Wahrnehmung. Höfe und Zwischenräume
Das komplexe Programm der internationalen Einrichtung umfasst nicht nur Klassen- und Wickelbereiche, sondern auch ein Theater und einen Indoor-Spielplatz. Bodentiefe Glasfassaden ziehen dynamische Kurven und belichten die offenen Räume des Neubaus. Der Blick nach draußen macht die historischen Gebäude allgegenwärtig. Zusätzliches Tageslicht erhält das fließende Raum- kontinuum durch drei kleine Höfe, welche die Flächen nach außen erweitern. Die Bestandsgebäude werden für die Verwaltung und als Werkstatt sowie Kunstraum genutzt. Höfe und schmale Zwischenräume verbinden die Bereiche untereinander. Die Decken des Neubaus sind durchgängig mit einem Metallgitterrost abgehängt, der aus Prismen geformt ist und das Raumkontinuum unterstreicht. Altersübergreifende Gruppen und offene Gemeinschaftszonen gehören mit zum Betreuungskonzept. Zur individuellen Förderung der Kinder sind künstlerische und kulturelle Aktivitäten geplant – im Rahmen eines pädagogischen Programms, das auf Spielen und Lernen durch Interaktion setzt.
Einheit durch Gegensätze
Mit dem Neubau ist es MAD Architects gelungen, gegensätzliche Architektursprachen aus verschiedenen Epochen zu einer Einheit zu vereinen. Dass dabei ihre Authentizität grundsätzlich nicht infrage gestellt oder zu Ungunsten eines Teils untergeordnet wird, spricht für das Konzept der Architekten. Es wird sich noch herausstellen, ob der Dialog mit der Geschichte und der Blick auf die Architekturtradition auch den Alltag der Kinder beflügeln.
Text: Sandra Hofmeister
Ganzer Text und English version in DETAIL 3.2021