Die Experimenta Design in Lissabon diskutiert die politische Verantwortung von Architektur und Design
Die Mechanismen des globalisierten Marktes haben die internationale Designwelt der letzten Dekade massgeblich geprägt. Doch glamouröse Selbstinszenierungen und rekordverdächtig teure Einzelstücke sind heute Paten einer vergangenen Ära. Stattdessen stellt sich die Disziplin unter dem Druck der Wirtschaftskrise zunehmend selbstkritische Fragen und entdeckt dabei den Bezug zum Alltag wieder. Das gilt auch für die zum sechsten Mal durchgeführte Biennale Experimenta Design in Lissabon. Sie findet in einer wirtschaftlichen Atmosphäre statt, die nicht nur in Portugal viel politischen Zündstoff birgt. Zusätzliche Brisanz erhält die Biennale durch ihr diesjähriges provokantes Thema. Denn die Symposien und Workshops, die Ausstellungen und die urbanen Interventionen, die sich in Lissabon bis Ende November der Architektur und dem Design widmen, sollen den Nutzen und die Nutzlosigkeit der beiden Disziplinen ergründen. «Useless» ist die Überschrift der Debatte, die sich das Biennale-Festival auf seine Fahnen schreibt. Es bietet sich dabei als internationale Plattform zum Austausch von Gedanken an, die neben gesellschaftskritischen auch ethische Perspektiven auf den Plan rufen.
Bissige Konsumkritik
«Als wir dieses Thema vor zwei Jahren ins Auge gefasst haben, war uns seine Sprengkraft für das Jahr 2011 nicht bewusst», sagt Guta Moura Guedes, die Direktorin der Biennale. Wie ein Puzzle hat sie deren Spielorte über die Strassenzüge und Hügel der Altstadt verteilt. Kommunale Einrichtungen wie das Barockpalais der Biblioteca Camões, prachtvolle Plätze wie die Praça da Figueira und eine Vielzahl auch kleinerer Museen sind in das Programm integriert. Als kaum beachtete Schätze aus Portugals reichem kulturellem Erbe nehmen sie die temporären Ausstellungen in ihre Räume auf. Die Diskussion über Nutzen und Nutzlosigkeit ist auf diese Weise im urbanen Raum sowie in der Geschichte Lissabons verankert – und sie bezieht die Bewohner der Stadt und ihren Alltag mit ein.
«Useless» signalisiert ein giftgrünes Plakat, das wie eine Warnung vor dem Antigo Tribunal da Boa Hora im zentral gelegenen Baixa-Viertel aufgestellt ist. Die labyrinthischen Räume des ehemaligen Konvents aus dem 18. Jahrhundert wurden bis 2009 von Lissabons zentralem Gericht genutzt und stehen seitdem leer. Bunte Azulejos-Kacheln zieren die rissigen Putzwände und künden im arkadengesäumten Innenhof sowie in den ehemaligen Gerichtssälen von einer besseren Zeit. Während des Festivals allerdings füllt sich das Labyrinth an Korridoren und Räumen zumindest temporär mit Leben. Im Erdgeschoss zeigen einzelne portugiesische Forschungsgruppen und Designateliers ihre Arbeiten, im ersten Stock finden Vorträge und Workshops statt. Als Allegorie des Leerstands, der in Lissabons Zentrum keine Seltenheit ist, zeigt das Gebäude des Antigo Tribunal, dass die Hoffnung auf die Zukunft und eine neue, dauerhafte Nutzung, noch nicht aufgegeben ist.
Von unbekümmert bis witzig
«Wir waren alle Ignoranten, wir haben die Konsequenzen der Globalisierung des Marktes nicht erkannt», ruft Enzo Mari während seines Vortrags von der Richterbank in einem der historischen Gerichtssäle. Die bissige Konsumkritik des 79-jährigen Altmeisters aus Mailand teilt der heutigen Gestaltungswelt vernichtende Karten aus. «Ich kenne mehr Stühle als Menschen! Wovon sprechen wir dann eigentlich, wenn wir von Design sprechen? In Wirklichkeit produziert Design doch nur Einrichtungsblödsinn», schleudert Mari seinem Publikum entgegen – und er meint es durchaus ernst. Die Zuhörer aber fragen sich, wie sich Design losgelöst von ökonomischen Bedingungen entfalten soll? Was steckt im Kern der Disziplin, und wo liegt ihr Wert jenseits glamouröser L'art pour l'art im High-End-Bereich?
Nicht alle Antworten, die in Lissabon zu diesen Fragen erörtert werden, vermögen vollends zu überzeugen. Zu unbekümmert holte der junge Compasso-d'Oro-Preisträger Jonathan Olivares aus Boston in seiner Ausstellung zu einer Gesellschaftskritik aus. Er prangert die Umweltverschmutzung und den Überfluss des Marktes an und reiht dabei letztlich doch nur altbekannte Phänomene auf, ohne zum Kern der Problematik vorzustossen. Die Sidelines-Schau wiederum, auf insgesamt sieben Institutionen in der Stadt verteilt, kapriziert sich auf die individuelle und emotionale Relation von Sammlern zu Objekten. Doch was als Konzept plausibel erscheinen mag, nämlich dass der Nutzen von Design in der persönlichen Bindung zu ihm liegt, entpuppte sich angesichts der Beliebigkeit der Ausstellungsstücke – abgenagte Hundestöcke, Time-out-Magazine aus den siebziger Jahren und Raritäten des Grafikers Peter Saville – als mehr oder weniger indifferentes Durcheinander, das für die Öffentlichkeit keinerlei Aussage hat.
Intelligent und witzig hingegen verhandelt Fernando Brízio die Frage nach der Poesie der Dinge, die er in ihrer Vereinnahmung durch den Alltag ausmacht. In der grossen Werkschau des portugiesischen Designers öffnet sich eine Ideenwelt aus Zeichnungen und Prototypen, Produkten und Videos, die sich vom funktionalistischen Designbegriff gelöst hat. Da verwandelt sich eine Zielscheibe zum Bogenschiessen in einen Beistelltisch mit Pfeilen als Füsse. Die Schiebetüren eines Hauses schreiben ihren Bewegungsablauf auf die rückwärtige Wand und werden so zum Seismografen ihres eigenen Lebenszyklus. Und vom Rand des Porzellantellers «Eating Plate», der wie viele Projekte Brízios ein Einzelstück ist, hat die Tochter des Designers ein Stück abgebissen – gerade so, als ob sie einen Teil des Suppentellers buchstäblich verspeist hätte wie einen Lebkuchen. Die Kraft von Brízios Entwürfen liegt in ihrem humanistischen Ansatz. Der in Angola geborene Designer erforscht Gewohnheiten und Rituale, die er als Choreograf des Alltags interpretiert. Dabei setzt er Buster Keaton als Vorbild für den Umgang mit Gegenständen an und entwirft Dinge, welche die Menschen zum Schmunzeln bringen, so humorvoll und genau hat der Designer ihren Nutzen studiert und in den Geschichten festgehalten, welche die Objekte erzählen...
Text: Sandra Hofmeister
Foto: "Utilitas Interrupta"
Bis 27. November; weitere Informationen: www.experimentadesign.pt.
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