Im Zaubergarten der Musik

Oscar Niemeyers Auditorium in Ravello ist schon vor seiner ersten Spielzeit eine musikalisch-architektonische Legende und Streitpunkt einer politischen Posse

Zypressen und Myrtensträucher rahmen den Bildausschnitt wie ein romantisches Landschafsgemälde. Auf den schroffen Felsklippen drängen sich enge Gassen neben Kirchtürmen und kleinen Fischerhäusern. Ganz unten, in der Tiefe, rauscht die Brandung des azurblauen Meeres, das sich als spiegelnde Fläche bis zum Horizont erstreckt. Ravello ist nicht irgendein italienisches Küstendorf. Der malerische Ort an der Amalfiküste liegt auf einem Felssporn 300 Meter über dem Meer. Seine Hotels, Villen und Pensionen können auf eine stolze Gästeliste zurückblicken: Winston Churchill und Greta Garbo waren hier im Urlaub, Tennessee Williams und Paul Valéry, Virginia Woolf und D. H. Lawrence. Zu den prominentesten Gästen Ravellos zählt Richard Wagner, der in den Gärten der Villa Rufolo Inspiration für den zweiten Akt des Parsifal fand. Klingsors Garten sei gefunden, vermerkte der deutsche Komponist in einem Brief vom 26 Mai 1880. Zu Ehren Richard Wagners findet in Ravello seit 1953 in den Sommermonaten das berühmte Musikfestival statt. Und seit Januar 2010 hat dieses Festival neben den Open air-Bühnen im Park der Villa Rufolo – dem Zaubergarten Klingsors – eine weitere, überdachte Spielstätte: Das Auditorium von Oscar Niemeyer.
Vor rund 10 Jahren wurde der legendäre Architekt Brasilias – kürzlich wurde er 103 Jahre alt – mit dem Projekt beauftragt. Seine 13 Meter hohe Betonwelle, die sich nur wenige Meter von einem der großen 5-Sterne Hotels entfernt auf einer Terrasse der Felsküste ausbreitet, fügt sich mit kühnem Schwung in die Landschaft, als ob sie eins mit ihr wäre. Unter der gekrümmten Dachschale, die sich mit einem großen Auge – dem verglasten Eingang – auf die Landschaft öffnet, ist der Konzertsaal mit 400 Plätzen verborgen. Wie in einer Muschel, die ihr Innerstes nur an einen kleinen Kreis Preis gibt, reihen sich die Sitze amphitheaterartig nach oben in den Hang; das Foyer lehnt sich als freischwebende Plattform über die Felsküste und auf der vorgelagerten Terrasse, die wie das gesamte Bauwerk in strahlendem Weiß glänzt, lässt die Aussicht aufs Meer den Atem stocken. Das Auditorium ist ein einzigartiger Ort, der nach dem Willen von Domenico de Masi, dem Präsidenten der Fondazione Ravello, nicht nur im Sommer, sondern 365 Tage im Jahr bespielt werden soll mit Klassik und Ballett, Pop- und Jazz-Konzerten. Ein neues Salzburg des Mittelmeerraums schwebte dem Soziologen und Freund Oscar Niemeyers in all den Jahren während der Planungs- und Bauzeit vor Augen.
Zur Eröffnung des Auditoriums im Januar 2010 spielte die örtliche Blaskapelle der Carabinieri. Das Orchester des Theatro San Carlo in Neapel machte Wagner alle Ehre und Lucio Dalla gab sein Bestes. Der schwierige Kraftakt der Planung des 18 Millionen Euro teuren Konzertsaals schien plötzlich überwunden. Die jahrelangen Querelen mit der Naturschutzorganisation Italia Nostra waren ebenso beigelegt wie die Uneinigkeiten zwischen der Kommune, der Region und der Festivalleitung – sogar der Staatsrat in Rom hatte sich zwischenzeitlich mit dem Auditorium beschäftigt. Doch an den Eröffnungsabenden spielte all das keine Rolle mehr. Die Regisseurin Lina Wertmüller schwärmte von der einzigartigen Architektur des neuen Auditoriums und der Fotograf Oliviero Toscani war so bewegt, dass ihm fast die Tränen kamen. Für einen kurzen Augenblick glänzte Ravello wie früher. Doch die Katharsis war nur unerwartet kurzweilig.
Denn nach dem Eröffnungsfeuerwerk blieb Niemeyers Auditorium vorerst geschlossen: Der Bürgermeister zankt sich mit der Festivalleitung – das Gebäude sei baurechtlich noch nicht abgenommen. Der Nutzungsvertrag zwischen der Festivalleitung und der Kommune wurde in einer Gemeinderatssitzung für nichtig erklärt. Die Geschichte geht also weiter. Der letzte Akt der großen Oper ist noch nicht geschrieben.
So bleibt das wundersame Auditorium in Ravello gleich mehrfach legendär: architektonisch als eine sagenhafte, sinnliche Kurve, musikalisch als ein einzigartiger, unbespielter Raum und politisch als eine Posse, welche die gesellschaftliche Realität in der Region Kampanien ausmacht. Klingsors mythischer Zaubergarten zeigt sich von all dem unberührt: Verschlafen harrt er zwischen den Platanen und Pinien in der mediterranen Landschaft und wartet darauf, dass moderne Verhältnisse seine Botschaft noch mehr zum Klingen bringen.

Text: Sandra Hofmeister

 

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