Zeugen der Gewalt

„Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht“, hält Friedrich Nietzsche in einem Aphorismus aus der „Götzen-Dämmerung“ fest und lässt keinen Zweifel daran, dass er die Aufgabe der Architektur darin sieht, dem Willen zur Macht zu dienen und ihn sichtbar zu machen. Doch die Wirklichkeit kennt nicht nur eine Form der Macht, sondern viele verschiedene Facetten und Spielarten, die für Städte und Gebäude auf unterschiedliche Art relevant sind. Zwar können sich Macht und Gewalt in repräsentativen Monumentalgebäuden manifestieren. Gleichzeitig werden sie aber auch in den Leerstellen, Lücken sowie Spuren der Zerstörung im urbanen Raum lesbar. Architektur macht die Zeichen von Macht und Gewalt auf unterschiedliche Arten sichtbar – sie kann dabei zum Instrument oder zum Opfer einer Propaganda werden, deren stiller Zeuge sie ist.
Bechir Kenzaris Reader „Architecture and Violence“ spürt unterschiedliche Aspekte der Gewalt und ihrer Wirkung auf, sei es im Stadtraum, in inszenierten Ausstellungsarrangements, in Bildern von Architektur, oder in der Vision und Gedankenwelt des Surrealisten Antonin Artaud. Die einzelnen Forschungsbeiträge, die der anspruchsvolle Band versammelt, stammen von internationalen Wissenschaftlern und zeichnen ein vielseitiges Kaleidoskop der Lesbarkeit von Gewalt auf, die jeweils vor historischem, politischem oder ästhetischem Hintergrund diskutiert wird. Die Metaebene allerdings, sowie die Definition dessen, was Gewalt im Zusammenhang der Architekturtheorie bedeutet, werden dabei ausgeblendet, auch wenn die einzelnen Essays verschiedene Deutungen hierzu anbieten. Das Interesse und die Aufmerksamkeit der Architekturtheorie an den räumlichen Manifestationen der Gewalt, so Kenzari im Vorwort, habe sich nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung als ein Forschungsschwerpunkt herauskristallisiert und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 an Relevanz gewonnen. Der umfangreiche Reader ist insofern als eine Studie zu verstehen, die einzelne Phänomene dieses Forschungsgebiets unter die Lupe nimmt.

Die Faschisten und das antike Rom
Etwa vier Millionen Besucher hatte die große faschistische Propagandaschau „Mostra della rivoluzione fascistà“, die ab 1932 für zwei Jahre im Palazzo delle Esposizioni in Rom zu sehen war. Unter den Besuchern waren auch André Gide und Le Corbusier, der enthusiastisch von der Schau schwärmte. Mario Sironi, der für die Ausstellungsarchitektur verantwortlich zeichnet und als Illustrator faschistischer Propaganda fast täglich in Kontakt mit Benito Mussolini stand, operierte mit verschiedenen Effekten, setzte obsessive Leitmotive und emotionale Arrangements mit Methoden des Films und der Bühnenarchitektur um. Fotomontagen, typografische Wanddekore und Lichtprojektionen, wie auch El Lissitzky sie in den zwanziger Jahren für seinen Sowjet-Pavillon auf der internationalen Presseausstellung „Pressa“ in Köln schon eingesetzt hatte, dienten in Rom dem Ziel, den Faschismus als eine neue Religion und als Gesamtkunstwerk darzustellen. Symbolisch aufgeladene Räume, die den Bezug zur Liturgie und zum antiken Rom suchten, waren fester Bestandteil einer Inszenierung, die Libero Andreotti im Sinne Walter Benjamins als eine Entgrenzung deutet, in der sich mit dem Aufkommen der Massenkultur Kunst und Leben begegnen. In diesem Sinne ist die Ausstellung ein Beispiel jener Ästhetisierung der Politik, die Walter Benjamin als Zeichen des Faschismus ausgemacht hat.

Londons Erinnerungskultur
Wie sich Gewalt im Stadtraum Londons eingeschrieben hat, untersucht Annette Fierro von der University of Pennsylvania mit einem Weitblick, der vom großen Feuer in der City 1666 bis zu den Zerstörungen durch deutsche Bomben im Zweiten Weltkrieg und den Anschlägen der IRA reicht. Dabei deckt sie die Spuren der Gewalt im Sinne einer Erinnerungskultur auf, deren pathetische Tendenz keine persönlichen Geschichten zulässt und sich stattdessen auf Profit und kommerzielle Interessen orientiert. So konnte die berühmte „Gurke“, das gläserne Hochhaus des Versicherungsgesellschaft Swiss-Re von Foster and Partners, erst errichtet werden, nachdem ein Bombenattentat der IRA das gesamte Areal zerstört hatte und insgesamt drei Todesopfer forderte. Gleichwohl bleibt dieser Zusammenhang heute weitgehend vergessen – stattdessen wurde das gläserne Hochhaus als strahlendes Beispiel grüner Architektur des internationalen Finanzstandortes London gefeiert. Wie sehr die Geschichte bis in die Gegenwart reicht, wird am Beispiel der Mobilitätsvisionen von Archigram deutlich. Die Autorin sieht sie als ein kulturhistorisches Phänomen, das eng mit der Rolle der Londoner Tube im Zweiten Weltkrieg als Bombenschutz für alle Bürger verbunden sei. Die Relevanz von Mobilitätsfantasien, welche die Archigram-Gruppe entwickelte, bleiben nach dieser Erklärung eng mit der Geschichte Londons und mit einem historisch gewachsenen, gesellschaftlichen Stellenwert der U-Bahn als einem Ort zum Überleben im System der Großstadt verbunden.

Vom Libanon nach Simbabwe
So vielfältig der philosophische und historische Bezugsrahmen der einzelnen Autoren ist – von Georges Bataille zu Francesco Borromini und von Theodor Adorno zu Rem Koolhaas – so unterschiedlich fallen auch die einzelnen Themen der Essays aus. Der Nachtclub B-018 in Beirut, den der libanesische Architekt Bernard Khoury mit sakralen Kriegszeichen aufgeladen und an der Stelle eines früheren Palästinenserflüchtlingslager platziert hat, erinnert als international publiziertes Luxusetablissement aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg an die Idee der Gewalt und des Todes. Die Architektur jedoch zieht diese Themen auf eine esoterische Ebene und bleibt letztlich eine eigene Stellungnahme schuldig.
Zerstörung und Verlust sind auch Thema des Essays „From Target to Witness“ von Andrew Herscher. Mithilfe von Satellitenbildern, die seit 1999 verfügbar waren, wurde die Zerstörung von Flüchtlingslagern sichtbar und als Beweis für die Verletzung von Menschenrechten herangezogen. Projekte wie „Eyes on Darfur“ von Amnesty International und Google Earth zeigen den Genozid im Sudan mithilfe von Satellitenaufnahmen, die allerdings Gefahr laufen, Zeugenaussagen zu ersetzen. Das Bild von Architektur beziehungsweise von deren Abwesenheit wird hier als Zeuge herangezogen. Architektur kann Gewalt billigen, sie legitimieren oder zum präzise gesetzten Ziel von Gewalt werden. Sie gibt allerdings ebenso die räumlichen Strukturen für das Überleben vor.

Text: Sandra Hofmeister

Architecture and Violence, Herausgegeben von Bechir Kenzari,Softcover, 230 Seiten, englisch, Barcelona, Actar, 2011, ca. 24,99 Euro, www.actar-d.com

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