Tanz um eine Ikone

Der «Chair One» steht im Mittelpunkt einer Konstantin Grcic gewidmeten Schau in München. Diese ästhetisiert die Prototypen des Stuhls, statt sie als Etappen eines Gestaltungsprozesses zu vermitteln.

Manche Möbel sind Ikonen. Ihr Design wirkt zeitlos und erzählt doch auch die Geschichte einer Ära und ihrer Eigenarten. So hat Verner Pantons geschwungener Freischwinger von 1967 die Zeit überdauert, obwohl sein extravagantes Design Ausdruck einer radikalen Haltung der späten 1960er Jahre ist – damals befreite sich die Idee des Wohnens von allen Konventionen und löste sich in psychedelische Kurven und Farben auf. Möbel wie der «Panton Chair» werden erst im Lauf der Zeit zu Ikonen. Ihre Serienfertigung und ihr weltweiter Vertrieb beflügeln diese Entwicklung, weil sie Einfluss auf die Verbreitung und auf die Wahrnehmung ihres Designs haben.

Was macht einen Stuhl aus?
Auch Konstantin Grcics «Chair One» gilt heute als Ikone. Der Entwurf für das kantige Möbel entstand vor 15 Jahren, seit 2003 ist der Stuhl in Serienproduktion. Von Venetien aus liefert ihn das italienische Familienunternehmen Magis in die ganze Welt. Dort ist der «Chair One» längst angekommen – auch mithilfe so bekannter Pop-Botschafter wie Lady Gaga, die sich in ihrem «Poker Face»-Video auf der Konstruktion des Münchner Designers räkelt. «Jeder kennt ihn», stellt Angelika Nollert, die seit eineinhalb Jahren Direktorin der Neuen Sammlung in der Münchner Pinakothek der Moderne ist, bei Ausstellungseröffnung lapidar fest. Doch die Popularität und der ikonische Status eines Entwurfs sind noch kein Ausstellungskonzept. Was also macht diesen Stuhl so interessant, warum ist er eine Ikone? In der heiklen Mission, Antworten auf diese Fragen zu vermitteln, setzt die Münchner Ausstellung «Konstantin Grcic. The Good, The Bad, The Ugly» ganz auf die eigene Sammlung des Museums. Sie stellt vier Varianten des «Chair One» in ihren Mittelpunkt – mit vier Beinen, mit Betonbasis, als Drehstuhl und als Hocker. Den Produkten stehen jeweils Modelle aus dem Entwurfsprozess zur Seite, die im rund 100 000 Objekte umfassenden Archiv der Neuen Sammlung konserviert sind. In sperrigen, vitrinenartigen Regalen aus neonfarbenen Lochprofilen, die Grcic eigens für diesen Anlass entwarf, sind insgesamt 27 Gebilde aus Draht und Pappe, Stahlblech oder 3-D-Druck-Material zu sehen. An ihnen lässt sich teilweise erahnen, wie der Designer und sein Team im Entwurfsprozess mit Fragen des Materials rangen oder mit der Konstruktion experimentierten, bis sie das räumliche Volumen der gitterartigen Sitzschale in den Griff bekamen. Doch dieser Prozess der Annäherung an das fertige Produkt lässt sich nur erahnen. Denn die Ausstellung erklärt ihn nicht, sondern stilisiert stattdessen einzelne Stationen aus der Phase von Entwurf und Entwicklung des Stuhls zu Kunstobjekten, die ohne Kontext für sich sprechen sollen.

Viel zu knappe Erläuterungen begleiten den Modellüberblick – seine Komplexität indes wird nur an den Jahreszahlen der Exponate und ihrer zum Teil repetitiven Quantität ablesbar. Die reduzierte Vermittlung stilisiert die filigranen Schnittmuster aus Pappe, die Stahlblechkonstruktionen und die lasergesinterten Dreiecksgitter der Sitzschale zu autonomen Objekten auf der Bühne des Museums. Auch der Katalog unternimmt nichts gegen diese Missverständnis, sondern verstärkt dessen Wirkung noch. Gerhardt Kellermanns Fotografien zeigen die «Chair One»-Modelle als losgelöste Skulpturen, die im leeren Raum schweben. Gezielt dekontextualisiert die Publikation die Entwurfsstrategien des Designers – ganz im Gegensatz zum umfassenden Begleitkatalog jener Grcic-Retrospektive, die vor anderthalb Jahren im Vitra-Design-Museum zu sehen war und derzeit Station in Leipzig im Grassi-Museum für Angewandte Kunst macht. Nach dem Titel von Sergio Leones Italowestern «The Good, the Bad and the Ugly» von 1966 gliedert sich die Schau in der Münchner Pinakothek der Moderne in drei Teile. Der Ikonenstatus des «Chair One» nimmt am meisten Raum ein. Hinzu kommt eine Auswahl an Produkten, die Konstantin Grcic für die beiden Paternoster des Museums zusammengestellt hat. Zehn Monate lang werden sich dreissig Tische, Papierkörbe und Regale auf den Tablaren der Ausstellungshalle drehen – in einer endlosen Schleife, die nur um sich selbst kreist. In gut sortierten Läden sind diese Werke aus der aktuellen Produktion des Gestalters längst im Schaufenster zu sehen – nun kommen sie unkommentiert auch ins Museum, allerdings ohne Preisangaben. Bleibt noch der dritte Ausstellungsteil – ein separater Saal, in dem ein oktogonaler Pavillon aufgebaut ist. Grcic entwarf diesen als Messestand für Audi, was auch erklärt, warum er teilweise aus Tankdeckeln, Heckklappen und Kühlerelementen konstruiert ist. Um die Rauminstallation zu inszenieren, wurde eigens eine grosse Kinoplakatwand entworfen, die mit einem Panoramabild den Kontext einer surrealen Landschaft aus Wüste und Hochhäusern suggeriert. Trotzdem hat die Konstruktion mit den berühmten Pavillonutopien von Buckminster Fuller, Charlotte Perriand oder Matti Suuronen nichts zu tun, auch wenn Angelika Nollert in ihrem Katalogtext Parallelen erkennen möchte. Das begehbare Häuschen aber ist ganz und gar kein Ausdruck einer Utopie. Es bleibt eine Marketing-Inszenierung für eine Automarke, die an visionäre Vorbilder anknüpfen möchte.
Mit Spannung wurde die erste Ausstellung der neuen Direktorin der Neuen Sammlung in München und ihrer Co-Kuratorin Xenia Riemann erwartet. Gilt es doch, das Münchner Design-Museum endlich als eine Plattform für Diskurse und lebendige Debatten aufzustellen und das Profil seiner wertvollen Sammlung international zu stärken. Völlig richtig ist daher die Entscheidung, Stücke aus dieser Sammlung, die der Öffentlichkeit bis auf Ausnahmen verborgen bleibt, in temporären Ausstellungen zu zeigen. Auch andere Design-Museen greifen gezielt auf solche Formate einer vorübergehenden Vermittlung zurück und entstauben damit ihre Dauerausstellung.

Aktivierung der Sammlung
Im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt stellt Matthias Wagner mit «Das Zimmer» wechselnde Bezüge zur lokalen Frankfurter Gestalterszene her. Im Kunstgewerbemuseum in Dresden hat Tulga Beyerle gezeigt, wie wertvoll der bedachte Blick ins Depot ist. In anderen Häusern wiederum entstehen Schaudepots, die das Archiv wie im Museum für Gestaltung in Zürich öffentlich machen. Bei all diesen Bemühungen ist eine kuratorische Haltung unabdingbar, die den Design-Begriff präzise vermittelt und ihn jenseits von Kunst und Kommerz verortet. Genau dies jedoch gelingt der Münchner Grcic-Ausstellung nicht. Ihr Titel, der das Gute, das Böse und das Hässliche zitiert, weckt zwar die Erwartung, dass hier Position bezogen wird – sei es aus Entwerfersicht oder mit Blick auf die Rezeption von Ikonen. Aber dieses Versprechen halten die Kuratorinnen nicht ein. Sie lehnen es konsequent ab, Stellung zu beziehen und den Kontext einer Design-Ikone zu vermitteln.

Bis 28. Februar 2016 (ausser die Paternoster-Schau, die bis 18. September 2016 dauert). Katalog:
Konstantin Grcic: The Good, The Bad, The Ugly. Hrsg. Angelika Nollert, Walther König. Köln 2015.
120 S., € 19.80.

Text: Sandra Hofmeister, © Neue Zürcher Zeitung AG
Foto: Gerhardt Kellermann © Konstantin Grcic

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