Avantgarde in den Alpen

Vom Alpenkitsch ist Innsbruck regelrecht umzingelt. Doch der Tiroler Landeshauptstadt gelingt es immer wieder, sich erfolgreich gegen Jodlerkanzel und Knödelputz zur Wehr zu setzen. Beneidenswert, was sich in der Architektur am Inn alles tut! Das jüngste Landmark ist eine technisch hoch entwickelte Standseilbahn, die das Stadtzentrum mit der Südflanke des Karwendelgebirges verbindet. Die ungewöhnlichen Stationsgebäude interpretieren den Rausch der Berge mit elegant geschwungenen Dachschalen. Sie erinnern an Gletscherbrüche oder Schneeverwehungen und wurden mit einer Software für den Bootsbau entwickelt. Architektur, die Themen der historischen Avantgarden aufgreift, neu interpretiert und auf hohem technischen Niveau in eine konstruktive Einheit bringt. Hier werden die Grenzen des Machbaren ausgelotet.

Der Winter kam über Nacht und tauchte die Berge um Innsbruck in majestätisches Weiß. Thomas Vietzke und Jens Borstelmann sind mit dem Flugzeug aus London angereist, umauf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen. Die Krägen ihrer Mäntel hochgeklappt und vor Kälte fröstelnd stehen die beiden Architekten von Zaha Hadid Architects auf der Aussichtsterrasse der Bergstation und blicken hinunter ins Tal. Eisiger Wind pfeift über das Dach und der Nebel kriecht den Hang hinauf. Bald wird er die Plattform erreicht haben. Da taucht plötzlich aus dem weißen Nichts im Tal ein gelber Waggon auf und fährt in den Bahnhof ein. Die neue Standseilbahn zur Hungerburg läuft heute im Testbetrieb.

VON DER HOFBURG DEN BERG HINAUF
Ab Dezember wird die Bahn das Zentrum von Innsbruck mit dem höher gelegenen Stadtteil Hungerburg am Fuß des Nordkettenmassivs verbinden und 1,7 Kilometer Strecke mit bis zu 46 Prozent Steigung passieren. Die historische, über hundert Jahre alte Standseilbahn an der Südflanke des Karwendelgebirges musste geschlossen werden. Nach nur vier Jahren Planungs- und Bauzeit wird die neue Trasse mit den eleganten Stationsgebäuden von Zaha Hadid in Betrieb genommen. Die Einzelkabinen der beiden Standseilbahnen
gleichen das unterschiedliche Gefälle durch ein hydraulisches Neigungssystem aus. Ein technisches Novum, das sicherlich Schule machen wird: Die Innsbrucker Hungerburgbahn ist nicht nur eine Bergbahn für Touristen, sondern auch ein brauchbares Nahverkehrsmittel. Sie startet fast ebenerdig am Congresszentrum in der Innenstadt, gleich neben der Kaiserlichen Hofburg.

GESCHWINDIGKEIT UND GLETSCHERBRÜCHE
Vor vier Jahren hatten die Londoner Architekten im Verbund mit der Strabag den internationalen Wettbewerb für die vier Stationsgebäude samt der S-förmig geschwungenen Brücke über den Inn gewonnen. Thomas Vietzke war als Projektleiter von Beginn an am Entwurf beteiligt: „Ein schönes Projekt. Mal in den Bergen. An der frischen Luft...“, meint der Hamburger und blickt noch einmal prüfend den Hang hinab. Im Tal reißen jetzt einzelne Nebelfetzen auf und geben den Blick auf den Inn frei, der sich wie eine glänzende Ader durch die Stadt schlängelt. Die Architektur der Stationsgebäude greift Bewegungslinien auf, zeichnet dynamische Drehungen nach und spielt mit dem Thema Geschwindigkeit, das durch die Seilbahn vorgegeben ist. Formal gleichen sich die Gebäude, ohne sich zu wiederholen. Über den kraftvoll geschwungenen Sichtbetonsockeln biegen sich doppelsinnig gekrümmte Dachschalen, die hellgrün in der Farbe des Inns schillern. Mit nur drei filigranen Auflagerungspunkten schweben die ungewöhnlichen Dächer gleichsam in der Luft. Assoziationen zu Gletscherbrüchen und Schneewehen entstehen – zu amorphen Formen der Natur, die in der Bergwelt alltäglich sind und in der Architektur zur Avantgarde zählen.

DIGITALE DACHHAUT
„Nachdem wir die Formen am Computer entwickelt hatten, mit einer Modellsoftware für den Auto- und Bootsbau, haben wir mehrere Materialien für die Dächer getestet“, erklärt der Projektarchitekt mit Blick auf das auskragende Dach der Bergstation. „Thermisch verformtes Glas war das Beste. Alles andere hätte in einer Überkopfkonstruktion bei diesen Witterungsbedingungen nicht Stand gehalten.“ Gemeinsam mit den Frankfurter Statikern Bollinger Grohmann Schneider und starken Partnern vor Ort in Innsbruck loteten die Londoner Architekten die Grenzen des Machbaren aus. Die doppelsinnig, auf engem Radius gekrümmten Dachschalenelemente ruhen auf einer stählernen Unterkonstruktion aus Quer- und Längsspanten. Kein Dachelement gleicht dem anderen; die lackierten, beschichteten und mehrfach gekrümmten Glasflächen sind weder geklemmt noch geschraubt, sondern auf Blechwinkel geklebt. Eine schillernd glatte Oberfläche entstand auf diese Weise, die außen verfugt als markante, einheitliche Wölbung auftritt. Verdeckt liegende Dachrinnen sammeln das Regenwasser und dienen im Winter als Schneefang. Der einzige Makel der eleganten Gletscherdächer ist ihre Herstellung Made in China. Zwar kann dies als Beispiel eines gelungenen Technologietransfers gelten. Doch den Weg in die Zukunft, zu einer nachhaltigen und ressourcenbewussten Baukultur in den Alpen, zeigt das Projekt sicher nicht auf.

RICHTUNGSACHSEN UND WALDSCHNEISEN
Die Talstation der Standseilbahn liegt im spitzen Winkel einer belebten Kreuzung in der Innenstadt. Fußgänger überqueren die Straße zum Hofgarten; Autos und Radfahrer sausen vorbei, und mitten in diesem Verkehrsfluss wölbt sich das schmale Gebäude der Congressstation und greift dabei den Radius der Straßenkurve in seinem Grundriss auf. Zum unterirdischen Bahnsteig führen beidseitig Treppen, die sich wie Richtungsachsen in die geschwungenen Flächen des Betonsockels fügen; eine schlitzartige transparente Öffnung in der Dachhaut leitet das Licht in das Untergeschoss zum Bahnsteig. Die erste Etappe der Fahrt zur Hungerburg führt unterirdisch bis zum Löwenhaus an der Uferpromenade und von dort über eine elegant geschlängelte Drahtseilbrücke mit zwei Betonpylonen. Kurz vor dem Alpenzoo taucht die Bahn aus einem zweiten Tunnel auf und klettert die schwindelnden Höhen einer steil abfallenden Waldschneise hinauf. Ein Bergbach rauscht in Hörweite. Der Bahnsteig der Station liegt auf der Höhe der Baumwipfel. Neben dem gläsernen Aufzugsturm führt eine Treppe die 24 Meter hohe Betonkonstruktion hinauf und öffnet sich oben auch zu einer schmalen Plattform, von der sich atemberaubende Ausblicke aufs Stadtzentrum ergeben.

ZARTER BETON UND BERGMASSIVE
Der Antrieb der Standseilbahn liegt in der Bergstation – dem größten Stationsgebäude mit auskragendem Dach und
breiten Treppen, deren Ausrichtung sich den natürlichen Bewegungsfluss der Fahrgäste zu eigen macht. Holzmaserungen
und Astgabelungen durchziehen die geschwungenen Betonflächen wie zarte Adern. Im Auf und Ab der geschwungenen Brüstungen und kurvigen Wände entsteht eine Dynamik, die an rasant geschnittene Höhenlinien erinnert. An der Hungerburgstation müssen Fahrgäste in die Nordketten- Gondelbahn umsteigen, um hinauf zur Seegrube und zum Haflekar bis kurz unter die Spitzen des Bergmassivs zu gelangen. Das Ski- und Snowboardgebiet dort oben lockt mit „Obstacles und Pipes für Profis“ und ist bequem vom Stadtzentrum aus erreichbar. „Im Winter müsste man mal kommen, zum Skifahren“, meint Thomas Vietzke. Schade eigentlich, dass das Wetter an diesem Tag nicht besser war. Man hätte sonst über die Innenstadt zum Goldenen Dachl blicken können. Und jenseits des Tals auf einer Anhöhe wäre dann ein zweites Landmark von Zaha Hadid Architects zu erkennen gewesen. Die Skisprungschanze auf dem Berg Isel.

Text: Sandra Hofmeister

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