Gegen den Mainstream

Obwohl sich der Wohnalltag in den letzten Jahrzehnten rasant gewandelt hat, werden seine Konventionen immer noch viel zu selten hinterfragt. Der 24. Interieur Biennale im belgischen Kortrijk gelang der schwierige Spagat, das Phänomen Wohnen kritisch zu betrachten und gleichzeitig als Möbel- und Einrichtungsmesse zu reüssieren.

Im Klosterinternat
Eine provisorische Holztreppe führt hinauf zum seitlichen Eingang der Broel School. Bald schon sollen die leer stehenden Schul- und Internatsgebäude des ehemaligen Nonnenklosters in Kortrijk einem Luxuswohnprojekt weichen. Doch bis es soweit ist, haben Joseph Grima und sein Space-Caviar-Team die verlassenen Korridore, Klassenzimmer und Schlafsäle zwischengenutzt. Ihre Ausstellung „The Quantified Home“ führt die Besucher durch ein Labyrinth von leeren Räumen – als Leitfaden für den Rundgang sollen Statistiken und Daten historischer Ereignisse von 1914 bis heute dienen, die hier und dort an die Wände gemalt sind. Doch viel beeindruckender ?als diese Zahlen sind die verlassenen Räume selbst – sie sind die eigentlichen Ausstellungsobjekte. Spuren eines vergangenen Alltags zeichnen sich in ihnen ab – verblasste Hinweise auf ein früheres Leben. Es ist noch nicht lange ?her, da waren Internatsschüler und Nonnen in der Broel School zu Hause. ?Am Ende des kuriosen Rundgangs öffnet sich der Blick in die ehemalige Turnhalle: Dort haben sich automatisierte Staubsauger verselbstständigt und tanzen paarweise zum Wiener Walzer, der ?aus den Lautsprechern dröhnt. Auch die Welt der Hausgeräte gehört zur bürgerlichen Vorstellung vom trauten Heim. Und mal ganz ehrlich: Wer weiß schon genau, wohin sie sich noch entwickeln wird?

Das andere Zuhause
Die Interieur Biennale in Kortrijk war schon? immer anders als andere Messen – mit dem Mainstream wollte man sich in der belgischen Provinz noch nie zufrieden geben. Als Leitthema gab Kurator Joseph Grima das Thema „The Home Does Not Exist“ vor – eine provokante These für eine Messe, die in ihren Hallen vornehmlich Wohneinrichtungen ausstellt. Dass es heute aber recht unterschiedliche Vorstellungen von Zuhause gibt, machten unter anderem die Sonderschauen in den Messehallen deutlich: Bei den Interieur- Award-Preisträgern in der Kategorie Produkt stand der nomadische Alltag vielfach im Fokus. Das belgische Künstlerduo Sofie Lachaert und Luc d’Hanis wiederum zeigte in der Installation „Tranches de vie“ abstrahierte private Interieurs, deren konventionelle Schränke oder Tische gegen die Gesetze der Logik revoltieren, vom Boden abheben und miteinander verschmolzen sind. Zwar verkünstelte sich die Hauptausstellung „A Theatre of Everyday Life“ auf dem Messegelände am allzu ambitionierten Ausstellungs-Setting einer begehbaren Stahlkonstruktion und vergaß darüber die eigentlichen Inhalte, die im Katalog von Lars Müller Publishers „Sqm. The Quantified Home“ jedoch erörtert werden. Doch auch im vielfältigen Rahmenprogramm in der Stadt gab es Initiativen, die wie das temporäre Hotel „Eyes Nights Only“ mit neuen Vorstellungen von Zuhause experimentierten. Die Pop-Up-Herberge der belgischen Kreativagentur Dift existierte nur während der Messezeit und nutzte den Nonnen- trakt der Broel School. Betten und Tische wurden in die nackten Räume gestellt. Die Gäste konnten in der ehemaligen Kantine oder Kapelle übernachten. Jeden Morgen mussten sie die Zimmer jedoch zeitig räumen, denn das Hotel verwandelte sich dann in eine Ausstellung. Dass sich privat und öffentlich überschneiden und dennoch die Idee von Zuhause nicht ausschließen, wurde so eindringlich erfahrbar. Letztlich hat sich die Vorstellung dessen, was wir „zu Hause“ nennen, nicht in Luft aufgelöst. Aber sie ist deutlich vielfältiger und überraschend pragmatisch geworden. Die Interieur Biennale in Kortrijk hat diesen Leitfaden aufgegriffen und mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben. Auch das gehört mit zum Konzept.

Text: Sandra Hofmeiste

 

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