Im Album der Avantgarde

Nachwuchsförderung und der Esprit der Avantgarde – zur 10. Design Parade im Hyères

Pierre Charpin ist eigentlich schüchtern. Der französische Designer aus Ivry-sur-Seine bei Paris hält sich im Hintergrund, er lässt gerne Anderen den Vortritt. Doch als Jurypräsident der 10. Design Parade musste er in diesem Sommer eine Ausnahme machen. Zur Eröffnung des Festivals und seiner eigenen Werkschau in der Villa Noailles an der Cote d’Azur steht er plötzlich im Rampenlicht. „Meine Objekte sind wie Wörter, sie formen Sätze und kommunizieren miteinander“, sagt Charpin. Er blickt in die Ferne, hinunter auf das funkelnde Meer in der Bucht von Hye?res, und will im Grunde nichts weiter sagen.
Charpins Werkschau „Villégiature“ zeigt Gegenstände aus Glas und Porzellan, Marmor und Kunststoff – ebenso konsequente wie kompro- misslose Studien zu Formen, Proportionen und Materialien. Im ehemaligen Schwimmbad der modernen Villa, die auf einem Hügel über dem südfranzosischen Städtchen Hyères liegt, sind die Vasen und Leuchten, Regale und Bänke des Designers auf schlichte Podeste gestellt. In der früheren Squashhalle hängen seine Zeichnungen an den Wänden. Die Skizzen entstanden beim Entwerfen und verselbständigten sich dann – teils, um die Kraft freier Linien und klarer Farben zu feiern – auf weißem Papier. Ohne jegliche unmittelbare Funktion. Charpins unbeirrbarer Sinn fur das Schöne, das er beharrlich in der Welt der Dinge sucht und ohne viel Aufsehen festhält, macht ihn zum Vorbild, besonders für die jüngere Generation.

Seit zehn Jahren fördert die Design Parade in der Villa Noailles den internationalen Nachwuchs. Das Konzept sieht neben Residence-Programmen auch Ausstellungen, Workshops und Diskus sionsforen vor. Es bezieht die lokalen Hochschulen und Traditionen mit ein und stellt zugleich globale Bezüge her. Die Auszeichnung mit dem Grand Prix für Nachwuchstalente wird von einer internatio nalen Jury vergeben. Statt einem Preisgeld erwartet die Gewinner eine Förderung durch jeweils einjährige Forschungsstipendien in der Porzellan Manufaktur von Sèvres und im Centre International de Recherche sur le Verre et les Arts plastiques de Marseille (CIRVA) sowie Ausstellungen und vieles mehr. Wer gewinnt, der kann sich auf das Netzwerk der Villa ver lassen und wird ein Teil von ihm. Er gehört zur Familie.

Der Blick von den Terrassen der Villa, die Robert Mallet-Stevens in den 1920er-Jahren für das Pariser Aristokratenehepaar Charles und Marie-Laure de Noailles entwarf, fällt über die Dächer der provenzalischen Stadt und die Salzfelder Les Salins auf die Insel Poquerole. Im mediterranen Park des Hauses spenden große Pinien und Zypressen Schatten, das laute Zirpen der Zikaden ist auch im kubistischen Garten die Hintergrundmusik. Der armenisch-amerikanische Künstler Gabriel Guévrékian legte ihn als schachbrettartiges Muster mit kargen Kakteenbeeten an. Die Noailles waren Kunstmäzene und Enthusiasten der Avantgarde, ihre Villa in der Provence ein Gesamtkunstwerk, das ihrem Lebensstil entsprach. Das Ehepaar finanzierte Luis Buñuel bei Filmexperimenten wie „L’âge d’or“ und empfing in Hyères Freunde – unter anderem Salvador Dalí, Francis Poulenc, Alberto Giacometti und Jean Cocteau. Die moderne, antibürgerliche Haltung des Vicomte und der Vicomtesse war auf Abenteuer ausgerichtet. In den kürzlich restaurierten Sammelalben der Hausherrin wird ihr avant gard istischer Esprit nachvollziehbar: Wie in einem Tagebuch sind Skizzen, Notizen und Zeitungsausschnitte zu bunten Collagen arrangiert. Unter den Fragmenten befinden sich auch persönliche Nachrichten von Jacques Lacan oder Thomas Mann, Fotos von Man Ray sowie die Eintritts- und Tischkarten aufsehen erregender Konzerte und Soiréen in Paris.
Noch heute ist der Pioniergeist der Noailles in der Villa lebendig. Seit den 1990er-Jahren wird das Anwesen für Ausstellungen und Festivals genutzt. Mit Unterstützung der Stadt Hyères, der Agglomération, des Départements und der Région sowie des Kultusministeriums in Paris entwickelte es sich zu einem internationalen Kulturtreffpunkt mit über das Jahr verteilten Schwerpunkten. Im Sommer zieht die Design Parade regelmäßig Gäste aus aller Welt an und ermuntert junge Gestalter zum Experimentieren – ganz im Sinn der Haltung der früheren Hausherren. Die Ausstellungen sind in den großzügigen, über den Hang gestaffelten Räumen der Villa verteilt. Der Garten, seine Terrassen und die Nebengebäude werden für Picknicks und Workshops genutzt. Einen passenderen, öffentlichen und zugleich privaten Ort für ein internationales Festival könnte es kaum geben. Die Design Parade ist eine Art Familientreffen. Sie setzt eine Tradition fort, die vor fast 100 Jahren am selben Ort begonnen hat. Zum zehnjährigen Jubiläum sind unter anderem die Porzellanarbeiten aller bisherigen Grand-Prix-Gewinner ausgestellt. Hinter dem goldenen Fransenvorhang werden die einzelnen Teller, Vasen und Objekte zu schillernden Kostbarkeiten – auch die Vase Superimposed von François Dumas. Das Élysée in Paris erschenkt das königsblaue Porzellanobjekt bisweilen an Staatsgäste. Es entstand vor fünf Jahren – damals hatte der Designer gerade mal sein Hochschuldiplom in der Tasche und gewann den Grand Prix der Design Parade. In der Zwischenzeit hat er längst ein eigenes Studio in Amsterdam gegründet.

Die Auszeichnung in Hyère ist für junge Designer ein Testlauf nach dem Studium und für manche auch ein Sprungbrett in die Selbstständigkeit. „Ich werde auf jeden Fall versuchen, einen Hersteller für mein Projekt zu finden“, meint Samy Rio. Der diesjährige Preisträger reichte die Abschlussarbeit seines Designstudiums in Paris an der Hochschule L’Ainsi Les Atelier zum Wettbewerb ein – eine Studie zur industriellen Nutzung von Bambus. Rio sieht in dem nachwachsenden Rohstoff einen geeigneten Ersatz für Kunststoffrohre – auch im Rahmen der industriellen Produktion. Auf einer großen Tafel hat er seine Experimente mit den Rohren der Pflanze versammelt. Gleich daneben sind seine Anwendungsvorschläge zu sehen: ein Bluetooth-Lautsprecher und ein Haartrockner – im Corpus beider Geräte wird Bambus mit Kunststoffteilen kombiniert. „Es geht mir nicht um Greeenwashing“, meint Rio engagiert. „Ich möchte echte Alternativen für die industrielle Produktion aufzeigen.“ Mit der Aufmerksamkeit des Grand Prix hofft der Franzose ein Unternehmen zu finden, mit dem er seine Idee zur Serienreife entwickeln kann. Die zehn Finalisten von insgesamt rund 300 eingereichten Wettbewerbsbeiträgen kommen unter anderem aus Frankreich und der Schweiz, Bulgarien und den Niederlanden. Für viele ist der Grand Prix eine wertvolle internationale Erfahrung. Die eingereichten Projekte sind im Untergeschoss der Villa ausgestellt und könnten nicht unter schied licher ausfallen: Während einige Designer mit neuen Technologien und den Möglichkeiten des 3D-Druckens experimentieren, setzen andere wie Philipp Weber auf Traditionen wie die Glasbläserkunst und das Storytelling. Unter den ausgestellten Konzepten sind viele frische Ideen, zum Beispiel die von Christophe Machet, der sich Gedanken zum Recycling von Kunststoffen gemacht hat. Mit Flipflops, die wie Dachziegel aneinandergereiht sind, formt er schützende Zeltdächer. Aus den gebrauchten Badelatschen kann er sogar nützliche Alltagsobjekte wie Lampenschirme zaubern, dank seiner eigens entwickelten Polyfloss-Maschine, mit der das Material aufbereitet wird. Gute Idee – aber noch im Experimentierstadium. Deutlich weiter hingegen ist das Projekt von Max Frommeld und Arno Mathies. Der Deutsche und der Schweizer lernten sich am Royal College of Arts in London kennen, wo sie bis vor Kurzem noch studierten. Ihr Faltschlitten ist ein Materialhybrid aus Holz, Kunststoff und Metall – er kombiniert Handwerkstraditionen und zeitgenössische Technologien. Die Kufen des Schlittens sind aus gebogener Esche, sein Corpus und die Sitzfläche aus recyclebarem Kunststoff, der in einem computergesteuerten Prozess an den notwendigen Stellen Rillen erhält, sodass er sich falten lässt. Mithilfe zweier Metallbügel unter der Sitzfläche wird das Sportgerät in aufgeklapptem Zustand arretiert. Der Schlitten gewann sowohl den Jury- als auch den Talentepreis der Design Parade 2015. Ab diesem Herbst schon wird er von Graf Schlitten produziert, einem Familienunternehmen im Schweizer Kanton Thurgau.

Für Max Frommeld und Arno Mathies ist die Auszeichnung in Hyères auch eine Anerkennung für ein gemeinsames Projekts, das sie neben dem Alltag in ihren eigenen Studios in London und in Genf gestemmt haben. Die beiden Gestalter haben nun die Möglichkeit, als Designer in Residence in die Villa zurückzukehren und an neuen Ideen zu tüfteln. Sie sind jetzt Teil der Familie – ihre neuen Arbeiten werden ins Familienalbum aufgenommen und spätestens nächstes Jahr im Juli zu sehen sein.

Text: Sandra Hofmeister, deutsche Domus #15, aheadmedia, Berlin 2015
Foto: Samy Rio

 

 

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