Architektur und Alltagsrituale

Yoshiharu Tsukamotos und Momoyo Kaijimas Blick auf Architektur macht Räume und Städte zu lebendigen Lebenswelten

„Wau wau“ bellt der Hund auf Deutsch. Doch es zählt mit zu den Eigenarten gesprochener Sprachen, dass die Laute von Tieren nicht für alle Ohren gleich, sondern jeweils anders klingen. „Bow-Wow“ bellen Hunde auf Englisch. Die Tokioter Architekten Yoshiharu Tsukamoto und Momoyo Kaijima entschieden sich für eben diesen Ausdruck aus der Kindersprache, als sie ihr Büro vor zwanzig Jahren gründeten. „Der Name kommt von Momoyo’s Vater. Er hatte damals einen kleinen Hund“, erinnert sich Yoshiharu Tsukamoto an die Anfänge von Atelier Bow-Wow. Nicht nur der Name, auch die Sichtweise der japanischen Architekten auf Städte, Räume und Lebenswelten ist ungewöhnlich. Für Tsukamoto und Kaijima ist Architektur primär in der Lebenswelt der Menschen verankert. Ihre erfrischend unkonventionelle Perspektive sucht Alternativen abseits des Mainstream, rückt scheinbar Nebensächliches ins Zentrum der Aufmerksamkeit und entdeckt auf unkonventionelle Weise neue Qualitäten. Schon zu Beginn der 90er-Jahre, als ikonische Blobs internationaler Stararchitekten weltweit en vogue waren, haben die beiden Japaner den Sinn von Gebäuden im Kleinen gesucht – in schmalen Zwischenräumen und engen Lücken von Straßen- und Stadtstrukturen, in winzigen Häusern, deren simple Bauweise und deren Raumprogramm dem Alltag und den Bedürfnissen der Nutzer auf unvergleichbare Weise gerecht werden. Heute ist Atelier Bow-Wow längst ein renommiertes internationales Architekturbüro aus Tokio, das weltweit Gebäude und Ausstellungen konzipiert, den Ton im internationalen Architekturdiskurs angibt und in den USA ebenso gefeiert wird wie in Europa und Asien. Das maßgebliche Verständnis von Baukunst als ein lebensweltliches Gestaltungsfeld hat die Projekte der Architekten weltweit berühmt gemacht.

Im Zwischenraum von Städten

Die ersten Arbeiten von Atelier Bow-Wow waren keine Gebäude, sondern genaue Analysen dessen, was Architektur in Zeiten des Platzmangels immer dichterer Stadtstrukturen leisten kann. Tsukamoto und Kaijima haben die urbanen Zwischenräume der Megacity Tokio über Jahre hinweg in detaillierten Studien untersucht und ihre Ergebnisse als Kompendium ungewöhnlicher Beispiele in einem Buch mit dem Titel „Pet Architecture“ festgehalten. Der Bezug auf die Tierwelt ist dabei erneut Metapher: „Pets“ sind Haustiere. Als sprachlose Wesen und stumme Lieblingsbegleiter der Menschen agieren sie unschuldig, ungezwungen und ehrlich. Auf das Stadtgebiet übertragen fokussiert der Begriff „Pet Architecture“ einfache Häuser und authentische Räume, die den Gesetzen des Alltags geschuldet sind, unmittelbar auf sie reagieren und deshalb mitten im Leben stehen. Weder Fragen des Design noch der Technologie sind in diesem Zusammenhang wichtig. Entscheidend ist allein die Art und Weise, wie Gebäude den jeweils beengten vorgefundenen Raum vereinnahmen, um innerhalb der limitierten Parameter in einen alltagsbewährten Lebensraum mit eigenen Qualitäten zu verwandeln. Zum Beispiel ein Kaufhaus, das sich wie ein Parasit unter der Hochtrasse einer Tokioter Autobahn eingenistet hat, oder ein Coffee-Shop, der auf seiner winzigen Fläche gerade mal vier Kunden aufnimmt: All diese Orte in Tokio kommen mit kleinsten Flächen aus. Sie nutzen das Minimum an Raum, das ihnen zur Verfügung steht, werden als beliebte Treffpunkte im Alltag angenommen und zeigen Routine in hybriden Nutzungen, die aus dem Bedarf heraus entstanden sind. „Haustiere sind gewöhnlich klein, humorvoll und charmant“, meinen Tsukamoto und Kaijima. Eben diese Charakterzüge erkennen sie in unbeachteten, winzigen Gebäuden und Räumen der Megacity wieder.
Für ihre gebauten Konzepte – darunter befinden sich gut zwei Dutzend Wohnhäuser in Tokio – hat Atelier Bow-Wow diesen lebensnahen Blick auf Städte und Räume zu einer Theorie erweitert, die sich „behaviorology“ nennt. Wind, Licht und Wärme, die Bedürfnisse der Bewohner, die Lebensdauer von Häusern zählen die Architekten zu solchen „Verhaltensweisen“, auf die sie in ihren Entwürfen reagieren.

Lichtspiele für Innenräume

Ihr eigenes Wohn- und Atelierhaus in Tokio ist ein Paradebeispiel dieser „behaviorology“. Es kommt mit wenig Raum und kleinen Flächen aus, reiht sich in den städtebaulichen Kontext ein und interpretiert ihn doch auf ganz andere, neue Art. Trotz der schwierigen Ausgangssituation werden so ungeahnte Qualitäten möglich. Eingekeilt zwischen die Nachbarhäuser eines dicht besiedelten und bebauten Viertels in Tokio, besticht das Wohn- und Atelierhaus durch helle und abwechslungsreiche fließende Räume sowie offene, auf Mitarbeiter und Familie ausgerichtete Bereiche, die wie selbstverständlich ineinander übergehen. Statt sich von seinen Nachbarn abzugrenzen, öffnen sich große Fenster auf die teilweise nur einen Meter entfernten Brandwände und geben den Blick auf ihr unmittelbares Gegenüber frei. Die Außenwände der Umgebung verwandeln sich so in belebte Flächen, die ihr Lichtspiel aus Sonne und Schatten im Innenraum entfalten und ihm einen eigenen Charakter geben. Innen und Außen sind in diesem Konzept eng miteinander verbunden, der Außenraum wir Teil des Interiors, Wind und Wetter charakterisieren die Stimmungen im Wohnbereich. Die Gebäude von Atelier Bow-Wow sind niemals neutrale Boxen, sondern klar auf einzelne Bedürfnisse und Nutzungsbereiche zugeschnittene Häuser. Sorgfältig gestapelte, über Splitlevel und eine zentrale Stahltreppe verbundene Flächen organisieren den offenen, vertikalen Raum des Wohn- und Atelierhauses. Dass die Stahlträger dabei nicht nur sichtbar bleiben, sondern den Rhythmus der filigran gegliederten Bereiche für Arbeiten und Lesen, Schlafen und Essen sowie vieles mehr vorgeben, zählt mit zum Kalkül der Architekten. Während die unteren Etagen als Arbeitsräume genutzt sind, werden die oberen Stockwerke zunehmend privater: Ein Familienidyll, das sich nicht abschottet, sondern auf seinen überschaubaren Flächen öffnet und von einer Dachterrasse gekrönt wird, die ein grandioses Panorama über die Umgebung bietet.
„Gutes Verhalten in einer so dicht besiedelten Gegend zu finden ist entscheidend“, („Establishing good manners in such a crowded area becomes crucial“), meinen Yoshiharu Tsukamoto und Momoyo Kaijimas. In ihren Entwürfen decken sie die verborgenen Strukturen des urbanen Kontexts auf, bringen sie als abstrakte Elemente auf einen Nenner und arrangieren sie auf neue Art. Nachteile werden auf diese Weise in Vorteile umgemünzt, beengende Begrenzungen zu lebenswerter Offenheit. Beide Büropartner studierten Architektur am Tokyo Institute of Technology, wo sie mit semiotischen Studien von Guy Debord und Henri Lefebvre vertraut wurden. Ihre strukturalistische Sichtweise verschiebt die Wahrnehmung von Städten und Lebensräumen, sie erkennt auch in Restflächen noch großes Potenzial, das sie maßgeschneidert auf die Bewohner und auf den jeweiligen Kontext nutzen. So kommt der „House Tower“ in Tokio mit einer Grundfläche von 1,6 x 3 Metern aus, um ein wohnliches Ambiente für eine Familie zu schaffen. „Das ist genug, um alle Bereiche unterzubringen und mit einer Treppe zu verbinden“, sagt Tsukamoto, und verweist auf den gravierenden Unterschied zwischen einem „House Tower“ und einem „Tower House“.

Kunst für die Straße

Neben größeren internationalen Projekten wie der Four Box Gallery im dänischen Krabbesholm, dem Hanamidori Cultural Center im japanischen Tachikawa, das in Zusammenarbeit mit Toyo Ito entstand, oder einem Sozialwohnungsblock im 17. Arrondissement in Paris, hat sich Atelier Bow-Wow auf außergewöhnliche Kunstprojekte spezialisiert, die sich als Interventionen in den Stadtraum verstehen. Das „Furnicycle“, welches das Architektenduo 2002 für die Shanghai Biennale „Urban Creation“ konzipierte, schafft neue Möglichkeiten für die Aneignung des öffentlichen Raums. Die Dichte an Fahrrädern in Shanghai, ihre Vielseitigkeit als Personen- und Lastenfahrzeuge mit erstaunlichen Kapazitäten, sind Ausgangspunkt des „Furnicycle“. Gleichzeitig haben Yoshiharu Tsukamoto und Momoyo Kaijimas beobachtet, dass die Bewohner Shanghais den öffentlichen Raum der Metropole – die engen Straßen und Gehsteige der Wohn- und Geschäftsviertel – mit eigenem Mobiliar auf dem Gehsteig nutzen. Stühle und Tische flankieren die Häuserschluchten, machen die Straßen zu lebendigen Räumen und markieren ein bequemes temporäres zu Hause für die Bewohner. Da dieses charakteristische Straßenmobiliar zunehmend verboten wird, suchten die Architekten nach einer Möglichkeit, den Stadtraum auch weiterhin als sozialen Begegnungsraum zu erhalten. Sie kreierten ein Möbel, das als hölzerne Bank, Tisch und als Lademöglichkeit auf Fahrräder montiert ist. Ihr „Furnicycle“ ist mobil, kann durch eigene Körperkraft überall hinbewegt werden und schafft spontane Sitzgruppen. Seine vielseitige Nutzung macht aus dem Fahrrad ein praktikables Sitzmöbel. Soziale Verhaltensmuster, die den Alltag prägen und ihn lebendig machen, stehen auch im Fokus des besonderen Möbelfahrrads für Shanghai. Wie bei ihren Architekturprojekten haben die Architekten soziale Gewohnheitsmuster aufgegriffen und in einen neuen Kontext übersetzt, der einen deutlichen Mehrwert für das Leben schafft.

Text: Sandra Hofmeister

Trademark Publishing, Frankfurt am Main 2011


 

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