Holziges, Naturhaltiges und Schönes
 

Was der Salone 2010 im Rückblick zu bieten hatte – und noch mehr

Rund einen Monat nach dem Salone del Mobile in Mailand hat sich die Begeisterung für die Designneuheiten, die immerhin mehr als 330.000 Besucher für eine knappe Woche in ihren Bann gezogen hatten, deutlich relativiert. Janosch zieht sich ins Privatleben zurück. Michael Ballack fährt nicht mit nach Südafrika, und der Vulkan in Island treib weiterhin seinen Schabernack mit uns. Doch welche Eindrücke sind aus Mailand sind geblieben? Welche Vorschläge können den Weg in die Alltagskultur schaffen, sie vielleicht sogar prägen? Welches Resümee lässt sich abschließend über eine Entwurfswelt ziehen, die wie eh und je zwischen Kunst und Kommerz, Originalität und massenproduzierter Banalitäten oszilliert?

Am zweiten Messetag hatte sich die Aschewolke im Himmel über Mailand ausgebreitet. Niemand kam mehr rein, kaum einer raus. Und allen, die noch da waren, drängte sich die Natur als allgegenwärtiges Thema auf. Viele ihrer Facetten und Spielarten waren auch in neuen Möbelentwürfen präsent. Ohne die Entbehrungsrituale früherer Öko- und Nachhaltigkeitstendenzen, mutierte das Natürliche zu einer Orientierungsgröße, die im freien Spiel der Interpretation recht individuell ausfiel. Mal konstruktiv und dann wieder lustvoll verspielt, opulent oder reduziert, als bloßes Zitat oder essenzielle Referenz. In routinierter Manier aus Ironie und Ernsthaftigkeit griffen die Campana-Brüder mit ihrer Edra-Kollektion auf das Repertoir naturnaher Mythen zurück. Ihr Regal aus der Kollektion „The Barbarians“ ist von Kopf bis Fuß in Stroh gehüllt, verkleidet sich als strubbelige Ethno-Figur und wird zum Urzelt aus der Vorzeit. Antropomorphes bewegte auch Luca Nichetto, der dieses Jahr als einer der wenigen italienischen Nachwuchsdesigner mit einer Vielzahl von Entwürfen beinahe omnipräsent war. Sein Robo-Stuhl für Offect kommt mit Schichtholz samt einer Metallstruktur aus und ist als echtes Gerippe in seine Einzelteile zerlegbar. Praktisch ist das holzige Sitzskelett für den Vertrieb allemal – ein Steckmöbel, das ein einen einfachen Karton passt. Standen vor wenigen Jahren noch neuartige Kunststoffe und komplizierte Fertigungsmethoden aus der Autoindustrie im Fokus, so geben heute Holz, Papier und andere Naturmaterialien den Ton an. Für Nils Holger Moormann ist dies kein Problem: Auf seinem Ministand überraschte der Möbelhersteller aus dem Chiemgau mit fünf neuen Entwürfen. Erstmals gibt es jetzt auch ein Stuhl im Moormann-Sortiment, mit Sitzlehne aus Karton und Kabelbindern, die die einzelnen Holzteile zusammenhalten. „Back to the roots“ also – mit erfrischendem Elan, so einfach wie möglich oder mit überraschenden Detaillösungen. So zeigte der Schweizer Jörg Boner, eine der größten Entdeckungen der letzten Jahre, einen ausgetüftelten, überzeugenden Holzstuhl bei Wogg, dessen Lehne über einen raffinierten Verbindungsmechanismus nachgibt und mitfedert – eine Eigenschaft, die früher dem Kunststoff vorbehalten war. Die schwedischen Architekten Claesson Koivisto Rune probten sich mit einer Leuchte erfolgreich im Papierfalten, und Enzo Mari gab bei Artek ein Stelldichein: Neu aufgelegt erhält sein Entwurf „Chair“ aus den 1970er Jahren in Zeiten des „do it yourself“ neue Relevanz. Einige Kiefernholzbretter, dazu ein Set Nägel und eine Bauanleitung. „Design ist immer auch Erziehung“, kommentierte der Altmeister des Designs sein Ansinnen.

„Jeder wird zum Künstler-Designer, der für seine Umwelt eine ethisch-politisch-ästhetische Verantwortung trägt“, erläutert Boris Groys das Pathos der historischen Avantgarde. Fast scheint es, als ob die Zeit für eine neue Avantgarde im Sinne einer neuen Ära der Verantwortung wieder gekommen wäre. Bei den Materialien wird diese Haltung offensichtlich, beim Sitzen zeigt sie sich ebenso. Statt ausgreifender Polstermöbel, die das Lümmeln und Loungen propagieren und jedes Wohnzimmer in eine dekadente Wellnesszone verwandeln, wurde in Mailand eine Vielzahl an Stühlen präsentiert, die wieder zum geraden Sitzen. Stefan Diez hat seinen Houdini-Entwurf zu einer beachtlichen kleinen Familie aus Salonmöbeln erweitert – mit gepolstertem Sitzkissen und flexibler Rückenlehne aus dünnem Sperrholz. Vitra überrascht mit dem Chairless Chair des chilenischen Architekten Alejandro Aravena, der das traditionelle Sitzband der Ayoero-Indianer übernimmt und das Kauern auf dem Boden vorschlägt. Selbst Konstantin Grcic, der sich früher niemals Polstermöbeln gewidmet hätte, zeigt mit seinem Established & Sons-Entwurf „Crash“, wie Sitzen und Schaumstoff auf einer einfachen Metallstruktur zusammenkommen können, ohne dass man dabei in schier unendliche Polstertiefen versinken muss.

Ein Entwurf jedoch blieb mir letztlich besonders im Kopf: Der Achille-Stuhl von Jean Marie Massaud für MDF Italia. Ein unvergleichbar elegantes Möbel – schlank in seinen Formen, unaufdringlich und vollendet im Schwung der Lehne, bequem und praktikabel obendrein. Die Struktur aus Metallrohr mit geschäumtem Polyurethan ist von Kopf bis Fuß mit einem abnehmbaren Stoff bezogen – ein Reißverschluss gibt das tragende Innenleben frei. Vollkommen in den Proportionen, in seinem Schwung und den schillernden Stofffarben – eine fabelhafte Studie, die Klarheit und Lässigkeit zeigt, besonders in der einfachen Version ohne Armlehnen. So unvergleichbar kann Möbeldesign sein, wenn es sich ein großes und immer noch unbeliebtes Thema vorknöpft: die Schönheit, und zwar in klassischem Sinne.
Apropos Schönheit, da fällt mir doch wieder Janosch ein, der diese Kategorie in Panama entdeckt hat. „Scheiß Tiegerente. Kitsch“, hat er vor seinem endgültigen Abgang noch gepoltert, im Rückblick auf jene Vermarktungsindustrie, die seine Idee weltweit bekannt gemacht hat. Trotzdem bleibt Panama für mich zumindest „Oh wie schön“. Genau wie Jean Marie Massauds Achille Chair, auch wenn er streng genommen mit Panama und Janosch nichts zu tun hat.

Text: Sandra Hofmeister

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