Der unabhängige Blick

Architekturfotografie hat nicht nur eine baukünstlerische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Eine Münchner Ausstellung zeigt, wie wichtig dabei die Unabhängigkeit des Fotografen ist.

Irgendwo im nirgendwo, eine Frau steht am Strassenrand und wartet. Der graue Asphalt vor ihr ist von verwahrlosten Stadthäusern und leeren Läden gesäumt. Kein Mensch weit und breit. Auf dem Trottoir steht eine Litfasssäule mit grellen Werbeplakaten. Eine Telefonzelle und die Bushaltestelle, an der die Frau wartet, sind im Blickfeld. Ob hier wohl jemals ein Bus vorbeikommt? Peter Bialobrzeskis Fotografien aus der Serie «Die zweite Heimat» halten alltägliche Begebenheiten in den neuen deutschen Bundesländern fest.
Es sind Eindrücke von einer Reise, die der Fotograf im Hinblick auf den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung im kommenden Oktober unternommen hat. Seine Aufnahmen sind ebenso ernüchternd wie faszinierend. Sie zeigen Strassenkreuzungen, Würstchenbuden und zufällige Begegnungen in Städten und Dörfern. «Fotografie kann nicht anders als dokumentarisch sein», meint Bialobrzeski. Dabei weiss er, dass seine Beobachtungen trotzdem kein zufälliges Bild wiedergeben, sondern inszeniert sind.
Die Ausstellung «Zoom! Architektur und Stadt im Bild», die zurzeit im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne zu sehen ist, zeigt fünf Bilder aus Bialobrzeskis neuer Serie. Sie entstanden ohne Auftrag und sind deshalb unabhängig, genauso wie die Arbeiten von 17 weiteren Fotografen, die in der Schau vorgestellt werden. Insgesamt könnte der Blick, den die Fotografen auf Städte, Menschen oder Räume in mehreren Kontinenten werfen, nicht unterschiedlicher ausfallen. Trotzdem zeichnet sich ein gemeinsamer Nenner ab: In keiner der Fotos geht es darum, die beobachtete Welt zu idealisieren und Architektur zum selbstgenügsamen Kunstobjekt zu stilisieren, wie das sonst in der Architekturfotografie meist geschieht. Diese hat sich in den Medien durchgesetzt und prägt unser Bild von leblosen, perfekt aussehenden Räumen und Gebäuden.
Menschen gibt es auf diesen Bildern meist nicht, denn sie könnten die Proportionen durcheinanderbringen. Solch ästhetisierende Fotos sind fast immer Auftragswerke für Architekten oder Bauherren. Als Werbemittel sollen sie einen guten Eindruck machen. Störendes wird nicht gezeigt. Um die Frage, wie sich Architektur auf den Alltag auswirkt oder wie sich der Alltag ihre Räume aneignet, geht es in diesen Bildern nicht. Dabei muss sich doch die Architektur genau in diesen Punkten tagtäglich beweisen.
Umso erfrischender ist die Perspektive, die Hilde Strobl, Kuratorin der «Zoom»-Ausstellung, durch ihre Auswahl vorgibt. Auf einzelnen, schräg im Raum verteilten Wänden sind jeweils Ausschnitte aus einer Serie eines Fotografen zu sehen. Videoarbeiten wie Wolfgang Tillmanns «Book for Architects» runden den Parcours ab. Einige der Fotografen sind noch jung und kaum bekannt – wie die Mexikanerin Livia Corona. In übersichtlichen Luftaufnahmen zeigt sie die endlosen Reihen kleiner Sozialwohnbauten, die in Mexiko-Stadt ganz ohne Infrastruktur aus dem Boden gestampft wurden. Ergänzend dazu stehen Innenaufnahmen und Strassenszenen mit Menschen. Sie lassen erahnen, dass die beengten Behausungen wenig mit der Idee eines trauten Heims zu tun haben.
Die Fotos der Ausstellung zeigen Orte in Österreich und Italien, Nigeria und China. Im Nebeneinander werden Brüche und Gemeinsamkeiten sichtbar. Die Aufnahmen der Münchner Fotografen Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch kommen ohne Menschen aus, aber aus ganz anderen Gründen als die Arbeiten professioneller Architekturfotografen. Denn die über die Wand verteilten, ungerahmten Fotografien zeigen verlassene Läden, leere Gebäude und Hauseingänge, die offensichtlich früher einmal belebt waren. Entstanden sind sie in Dörfern der Oberpfalz und in Oberfranken, die durch die Landflucht zunehmend aussterben. Wie die zurückgebliebenen Bewohner den Niedergang erleben, wird in den Aussagen deutlich, die die Fotoserie als Tondokumente begleiten.
Es ist noch nicht lange her, dass sich Architekturfotografie als Kunst etabliert und ihre Unabhängigkeit entdeckt hat. Die Schwarz-Weiss-Aufnahmen von Industriedenkmälern, die Bernd und Hilla Becher 1972 auf der Documenta in Kassel ausstellten, gelten als Meilenstein. Bei den Bechers an der Akademie in Düsseldorf studierten in den siebziger Jahren unter anderem Thomas Ruff, Andreas Gursky und Candida Höfer. Mit ihren Arbeiten wurde die Architekturfotografie endgültig zur Kunstform. Menschen sind auf kaum einem ihrer Bilder zu sehen, genauso wenig wie auf den Aufnahmen der Bechers. Hier geht es um eine Wahrnehmung von Architektur, die in Menschen nur Störfaktoren erkennt.
Einen radikal anderen Weg geht der Schweizer Fotograf und Künstler Andreas Seibert. Statt Hochhäuser abzulichten, porträtierte er in Chinas Städten über Jahre hinweg das Leben der Wanderarbeiter. Sie haben ihre Heimat verlassen, um auf den Hochhaus-Baustellen der schnell wachsenden Metropolen Arbeit zu finden. Sie arbeiten mit eigener Muskelkraft fast wie vor hundert Jahren und wohnen in Blechhütten, in denen die Schlafplätze nur durch Vorhänge voneinander separiert sind. Insgesamt 200 Millionen Wanderarbeiter gibt es in China; nach einer Studie der Universität Peking lebt jeder von ihnen auf 2,6 Quadratmetern. Seibert zeichnet ihren Alltag mit seiner Kamera auf und erzählt ihre Lebensgeschichte. Seine Serie «From Somewhere to Nowhere – China's Internal Migrants» ist kaum anklagend, was ihre politische Aussage umso überzeugender macht. Doch auch wenn sie sich dokumentarisch gibt, ist letztlich auch sie gezielt inszeniert.

Text: Sandra Hofmeister

Bis 21. Juni in der Pinakothek der Moderne. Katalog: Zoom! Architektur und Stadt im Bild. Hrsg. Andres Lepik und Hilde Strobl. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2015. 208 S., € 29.80.

 

 

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