Kassel und die Architektur der 50er

„Collapse and Recovery“, das Documenta 13-Leitmotiv erzählt auch die Geschichte vom Trümmerfeld zur Vorzeigestadt der Nachkriegsmoderne. Eine Zeitreise.

Ein schneeweißer Helikopter landete auf dem Flachdach der „Centrum-Garagen“ an der „Neuen Fahrt“. Das Parkhaus, 1955 rechtzeitig zur Bundesgartenschau und zur ersten Documenta fertiggestellt, war eines der ersten seiner Art in Deutschland. Und auch der Lufttaxi- Dienst, mit dem der Bauherr in die Stadt schwebte, zählte zu den Pionieren. Die Szene illustriert Kassels „Recovery“, die Genesung: Sechs Jahre nach Kriegsende, nach Bombenterror, Feuersbrunst und Trümmern – 80 Prozent der Stadt waren zerstört –, umwehte die einstige Kurfürstenresidenz und Hauptstadt Hessens das Flair des Aufbruchs in eine neue Ära.

Zwar wohnten noch Tausende von Menschen in Behelfsquartieren, aber zugleich verwirklichte man Visonen: weihte die „Treppenstraße“ ein, die erste Fußgängerzone im Land. Legte den Grundstein zur Auefeld-Siedlung, ein urbanes Wohnquartier mit modernen Reihenhäusern und Gärten. Und eröffnete das Kaskade-Kino am Königsplatz, das jede Vorstellung mit Musik und Wasserspielen feierte. Ein Spektakel, das Kassel den Ehrentitel „Filmstadt“ einbrachte. Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Johannes Heesters, die Kessler-Zwillinge, Joachim Fuchsberger – das Who is Who der deutschen Nachkriegsstars traf hier regelmäßig zu Premieren ein und versprühte Glamour, Glanz und eine gute Portion Zuversicht.

Eine „Neue Stadt auf altem Grund“ entstand Mitte der 1950er-Jahre. Auch die Versatzstücke aus dem 19. Jahrhundert und Pläne aus der Nazi-Zeit spielten dabei eine Rolle, sind aber kaum noch erkennbar. Der öfter revidierte städtebauliche Masterplan orientierte sich hauptsächlich am Leitbild einer „funktionalen Stadt“, wie sie der Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) bereits 1933 in der „Charta von Athen“ erarbeitet hatte. Internationale Architekten und Denker, darunter auch Le Corbusier und Gerrit Rietfeld, forderten darin für die Zu kunft „klare räumliche Trennungen zwischen den Funktionen Wohnen und Arbeiten, Produktion und Dienst leistungen“. Das Ringstraßensystem für den Autoverkehr, die unbefahrbare Treppenstraße und die Auefeld-Wohnsiedlung machen diese Trennungen in Kassel erlebbar und führten zu der anvisierten aufgelockertenund autogerechten Stadt. Einer ihrer prägenden Architekten war Paul Bode, der jüngere Bruder des Documenta-Gründers Arnold Bode. Der „Spiegel“ lobte den Baumeister 1955 als „Avantgardisten“. Zu den Arbeiten seines Büros, das er unter anderem mit seinem Bruder Theo Bode und Ernst Brundig betrieb, zählen neben den Centrum-Garagen und dem Schlosshotel Wilhelmshöhe auch das Kaskade-Kino.

Paul Bode gelang es in jenen Jahren, sich überregional als ein Experte für Lichtspielhäuser zu etablieren. Der Kasseler baute in Mannheim das „Alhambra“ und in Nürnberg den „Atlantik-Palast“. Dennoch fiel er beim Bund Deutscher Architekten derart in Ungnade, dass man ihn ausschloss: Herman Mattern und Hans Scharoun, reputierte Stadtplaner, der eine Landschaftsarchitekt, der andere Architekt, hatten den Wettbewerb für das neue Kasseler Staatstheater gewonnen; ihre Ideen wurden in Fachkreisen begeistert aufgenommen und ausgezeichnet.Doch im Geheimen brachte der Konkurrent Paul Bode einen Gegenentwurf auf den Weg und erhielt auf eher verschlungenen Pfaden 1955 den Auftrag, obwohl die Fundamente des Scharoun-Baus bereits ausgehoben waren. Als „Fall Kassel“ machte der Skandal über Deutschland hinaus Schlagzeilen; völlig aufgeklärt ist er bis heute nicht.

Auch das markanteste Wahrzeichen für den Wiederaufbau wurde in der Epoche der 1. Documenta fertiggestellt: das Hochhaus der Elektrizitäts- und Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM), ein Entwurf des Kasselers Josef Bieling. Am oberen Ende der Treppenstraße reckt die Ikone der Moderne ihr vorstehendes Flachdach über eine filigran gerasterte Fassade. Unterhalb des Gebäudes bilden Podeste, Rampen und kaskadenartig angelegte Treppen, Grünflächen und Brunnenanlagen eine autofreie Achse, die hinunter zum Friedrichsplatz mit dem Museum Fridericianum führt.

Zu den 1950er-Jahre-Ensembles, die das zeitgenössische Kassel prägen, zählt auch das „Hotel Hessenland“ an der Oberen Königsstraße mit dem elegant geschwungenen Flugdach. Das erste Großhotel der Stadt präsentierte sich nach Bodes Entwürfen mit geschwungener Treppe im Foyer, Sonnenterrasse und Gartencafé auf dem Dach.

Trotz seines unehrenhaften „Theater-Auftritts“ steht Bodes Können außer Frage: Er verbindet Handwerk, Ingenieurgeist, moderne Dynamik und hat auch Möbel und Lichtkonzepte entworfen, zum Beispiel elegante Federholzstühle und in die Decken eingelassene Blütenleuchten für das Hotel Hessenland. Bodes Kino „Kaskade“ mit der legendären Wasserorgel und dem samtroten Saal liegt seit mehr als zehn Jahren im Dornröschenschlaf. Nur der frühere Eingangsbereich wird von Läden besetzt. Jetzt, mit neuer Nutzung im Rahmen der Documenta 13, wird das Glanzstück der Nachkriegsmoderne einen Sommer lang zum Leben erweckt. Es ist ein weiterer Neuanfang in Kassel.

 

Text: Sandra Hofmeister

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